Ich habe jetzt das neue Album mehrfach gehört, ich habe in Fernsehen und Internet einige Auftrittsfetzen der aktuellen Besetzung "unter Strom" gesehen und ich hab die Band, noch mit Jürgen am Schlagzeug, auf der Unplugged-Tournee gesehen. Es ist daher Zeit für etwas, was ich nur nach der Akustik-Variante alleine noch nicht machen wollte: Ein erstes Fazit zur neuen Besetzung.
Traditionalisten schreien natürlich bei jeder Umbesetzung laut auf, da kannste nix machen; für diese Leute ist der "Vollkasko-Desperado" vom neuen Album. Das Lustige an diesen vermeintlichen Traditionalisten ist, dass sie alle immer nach der "Urbesetzung" schreien, damit aber die Besetzung des ersten überregionalen Erfolgs meinen. Blöd nur, dass das damals nicht mehr die Urbesetzung war, sondern die zweite, an manchen Instrumenten (Bass, Keyboards) sogar schon die dritte Besetzung.
Auch ich bin traurig, dass "der neue Schlagzeuger" Jürgen Zöller nicht mehr trommelt; aber ich betrachte die aktuelle Band jetzt einfach vom musikalischen Standpunkt aus. Und da muss ich sagen:
Es ist in der Geschichte der Band bislang die beste Besetzung! Noch besser als die von ~ 2001, für die ich bisher immer die Fahne hochgehalten habe.
Wolfgang ist immer noch Wolfgang. Aber schauen wir uns die anderen Musiker mal an und vergleichen sie mit ihren Vorgängern. (Wobei ich die Urbesetzung ausklammere, weil ich sie nicht erlebt habe und es ja auch keine echte Rockband-Besetzung war.)
Ulrich Rode ist neu an den Gitarren. Das ist natürlich traditionell die prominenteste Position neben dem Frontmann und daher besonders im Fokus. Ich mochte Helmut und ich mochte Major. Beide waren, so wie ich das beurteile, auf einem sehr ähnlichen Niveau, gleichzeitig jedoch stilistisch ziemlich unterschiedlich. Da kann man den einen oder den anderen mehr mögen; als Live-Gitarrist mochte ich persönlich Helmut etwas mehr als Major. Zu Ulle muss ich nun ganz klar sagen: Er ist einfach der bessere Gitarrist als jeder seiner beiden Vorgänger! Und er ist vielseitiger. Sowohl stilistisch - als auch bezüglich der Tatsache, dass er zahlreiche weitere Saiteninstrumente spielen kann. Wenn auf dem Radio-Pandora-Album Pedal Steel zu hören war, hat die der inzwischen auch schon verstorbene Jo Steinebach eingespielt, weil Helmut das nicht konnte. Ulle dagegen spielt auf dem neuen Album Gitarre (inkl. Dobro & Baritongitarre), Pedal Steel, Banjo, Mandoline und Saz. In dem Zusammenhang empfehle ich auch die Kristallnaach-Version vom Bauhaus-Konzert, das es inzwischen auf YouTube (und inklusive der Zugaben auf der Bonus-DVD zum neuen Album) gibt. Das ist meine Lieblingsversion von dem Stück, noch vor der Mundharmonika-Solo-Version von 2001; sie ist mit Saz und Pedal Steel:
https://youtu.be/0v3inaylHy8?t=26m24sÜber
Werner Kopal muss sowieso nicht viel gesagt werden. Bassisten schaue ich mir aus Interesse am Instrument immer sehr genau an - und Werner ist einer meiner Lieblingsbassisten. Selbstverständlich ist er deutlich besser als Steve Borg. Borg war wohl ein ganz ordentlicher Cellist - am Bass aber eigentlich nicht einmal Durchschnitt, wenn man Profiniveau ansetzt. Jürgen hat ja auch mal ausgeplappert, dass er im Studio ewig gebraucht hat, bis seine Parts endlich im Kasten waren. Werner ist jetzt übrigens auch schon seit 20 Jahren in der Band - die Band gibt es seit 40 Jahren. Ab nächstem Jahr wird er also in mehr als der Hälfte der Bandgeschichte dabei gewesen sein, der "neue Bassist".
Auch
Michael Nass ist im Vergleich zu 'Effendi' Büchel, so lustig ich ihn mit seinen Tanzeinlagen immer fand, natürlich der viel bessere Musiker. Büchel war zu Beginn ein Maschinenbaustudent, der ganz okay Klavier spielen konnte; man muss ihm zugute halten, dass er sich musikalisch in seiner BAP-Zeit wirklich weiterentwickelt und am Schluss sogar einige (gute!) Songs komponiert hat - aber gegen Micha, einen in allen Stilrichtungen sicheren Pianisten mit absolutem Gehör, kann er natürlich nicht anstinken.
Zu
Rhani Krija an den Percussions muss sowieso nichts gesagt werden. Rhani ist der erste und einzige Musiker in der BAP-Geschichte, der an seinem Instrument zu den Besten der Welt zählt! Nicht einmal der wirklich sehr gute und von mir lange schmerzlich vermisste Kurzzeit-Percussionist Mario Argandoña (1996; damals habe ich BAP zum ersten Mal live gesehen) kann dieses Niveau mithalten - und Schmal Boecker natürlich sowieso nicht. Schmal ist eine Kultfigur der Band-Geschichte, aber er war definitiv in erster Linie als (ehemals?) enger Freund von Niedecken in der Band - und nicht, weil er musikalisch einen nennenswerten Beitrag geleistet hätte. (Im Studio wurden die Percussions ab 1988 meist von Jürgen eingespielt.) Wahnsinn, dass er jetzt fest in der Band und damit auch live dabei ist!
Bei
Sönke Reich am Schlagzeug ist es natürlich noch am schwierigsten, ein Urteil abzugeben, weil er erst kurz dabei ist. Jürgen hat die Latte so hoch gelegt, dass jeder andere mühelos unten durchspringen kann.
Wenn man sich jedoch das oben verlinkte Bauhaus-Konzert anschaut, bei dem Sönke sowohl den kurz zuvor ausgestiegenen Jürgen als auch den verhinderten Rhani ersetzt und sowohl Percussion als auch klassisches Schlagzeug (das bei unplugged ja weniger stark beansprucht war) gespielt hat, dann ist das schon sehr, sehr vielversprechend. Diese jugen studierten Schlagzeuger sind einfach top ausgebildet und wahnsinnig flexibel, egal ob mit Händen oder Sticks. Ich bin auf die ersten "echten" Live-Eindrücke auf der Tournee gespannt, aber verschlechtert hat man sich auch am Schlagzeug wohl nicht.
Anne de Wolff hat keinen direkten Vorgänger. Sie war ja schon seit zehn Jahren als Gast dabei - bei einzelnen Stücken, an der Geige. Seit sie fest in der Band und dadurch ständig auf der Bühne ist, hat sie die Band wirklich extrem bereichert. Es ist fast immer ein Hauptgewinn, eine so vielseitige Multiinstrumentalistin in der Band zu haben! Hier eine Auswahl an Instrumenten, die sie bei BAP schon gespielt hat - ohne Anspruch auf Vollständigkeit, weil ich möglicherweise etwas vergesse: Geige, Bratsche, Cello, Harmonium, Mandoline, Autoharp, Vibraphon, Posaune, Akkordeon, Gitarre (nur live), Percussion (nur live). Da brauchste normalerweise ein halbes Dutzend Gastmusiker für - und dann lässt es sich live wieder nicht so wirklich umsetzen, weil die Leute ja nicht für ein Lied mit auf Tour gehen. Der letzte Multi-Instrumentalist der Band war ja Jens Streifling - bei ihm bedeutete "multi" aber nur "drei" (Saxophon, Gitarre, Mundharmonika). Ich mochte ihn, als er noch in der Band war, und ohne ihn wäre "Amerika" nicht geworden, was es ist - aber wie man von BAP zu den Höhnern wechseln kann, ist mir einfach unbegreiflich, daher kein Kommentar mehr.