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Weiblich 
BeitragVerfasst: Do 4. Okt 2012, 20:06 
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Dearie
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Registriert: So 4. Mär 2012, 22:07
Beiträge: 3818
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Als der Augenblick die Zeit außer Kraft setzte
„Die Spannung zerrte an meinen Nerven. Es war kaum mehr auszuhalten, bis alles bebte.
Bis es passierte.“


Konnte man noch viel verlieren, wenn man schon am Abgrund stand? Waren die Versuche nicht alle vergebens gewesen, sollte es das wirklich gewesen sein? Hatte es Sinn, sich darüber Gedanken zu machen?

Die Wolken über ihn bildeten groteske Gestalten, die beim genaueren Hinsehen jedoch sofort wieder verschwanden. Vielleicht war es ein Apfel, vielleicht war es eine Tomate. Vielleicht war es einfach Einbildung, sinnierte er, zumindest hatte er so merkwürdig geformte Wolken noch nicht gesehen. Höchstens auf Bildern.
Kalter Wind hatte sich über die Dächer der Stadt gelegt und belegte seine Hände mit einem Taubheitsgefühl; das einzige, was er noch spürte, war ein kribbelnder Finger. Unangenehm war ihm das nicht mehr, vielmehr passte es zu seinem Gemütszustand, auch wenn er verwundert war. Blauer Himmel zierte die Decke des Universums und spiegelte die Hoffnung wider, die er vor einiger Zeit gehabt hatte. So, als wollte ihm jemand ein Zeichen geben, das ihn noch von seinen Plänen abhalten sollte. Doch er konnte so nicht mehr leben; nach einigen Jahren des Selbstbetruges war nun Schluss, er hatte weder sich selbst, noch jemanden anderen gefunden. Viele Möglichkeiten hätte es gegeben, das zu ändern, nur hätte er dafür darüber nachdenken müssen, was er gewollt hätte. Er hätte handeln müssen, doch er tat es nicht.

Die Umkleidekabine seines Fußballteams war völlig ausgestorben, als er aus der Dusche kam. Es war noch ziemlich früh, es sei denn, seine Uhr wäre stehengeblieben, doch sie tickte leise an seinem Handgelenk.
Gedankenverloren setzte er sich auf eine Bank, nahm seine Sachen und zog sich langsam an. Er bummelte absichtlich, damit er später zuhause sein konnte – er konnte seine Eltern nicht mehr ertragen, die ihm ständig zeigten, was richtig war und sich so sehr liebten, dass sie ihn darüber hinaus vergaßen. Aber sie hatten sich; das bewunderte er genauso, als dass es ihn verletzte. Er verstand das Gefühl nicht, hatte es bisher nur auf einer Art und Weise gefühlt, die anderen meistens fremd war.
Als er fertig war, betrachtete er sich im Spiegel und fummelte an seinem Haar herum, um es wenigstens ein bisschen zu bändigen. Sie fielen ihm unablässig ins Gesicht und kitzelten ihn an den Wangen.
Als plötzlich eine Hand von hinten kam, um eine Strähne hinter sein Ohr zu streichen, hätte er fast aufgeschrien. Das leise Geräusch, das trotzdem über seine Lippen kam, folgte allerdings nicht. Die fremde Hand hatte sich auf seinen Mund gepresst und zog seinen Kopf an sich heran. Ein ihm sehr bekannter Geruch erfüllte den Raum und schon hörte er auch die dazugehörige Stimme. Die Stimme, die ihm jedes Mal alle Sinne raubte, die ihn mit Liebe erfüllte, die ihn aber gleichzeitig so verstörte, dass er sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Er schloss die Augen und unterdrückte den Impuls sich zu wehren. Stattdessen blieb er ganz still, sodass der Druck von hinten verschwand und er umgedreht wurde.
Als er die Augen öffnete, überkam ihn dieses unglaubliche Gefühl. Dort stand er – sein bester Freund. Er kannte ihn schon so lange, dass er nicht mehr genau sagen konnte, wann er ihn kennengelernt hatte. Er weiß nur, dass sie, solange sie denken konnten, immer füreinander dagewesen sind. Und dann ist es passiert. Sie haben sich ineinander verliebt, konnten dieses Gefühl nicht richtig zuordnen. Haben sich gestritten. Haben sich zerstritten.
Die Zeit verstrich, die Atmosphäre hatte eine gewisse Schwere und Anspannung erreicht – sie konnten nicht mehr untätig sein. Er kam auf ihn zu, drückte ihn gegen die Wand und presste seinen Mund auf die warmen, weichen Lippen seines Gegenübers. Sein Herz drohte zu explodieren, er wusste nicht, was er tat. Es hatte ihn überkommen. Sie waren Opfer ihrer Liebe.
Plötzlich war das Ticken seiner Uhr so laut, dass er sich nicht mehr zusammenreißen konnte. Er löste sich von ihm, voller Widerwillen und schüttelte den Kopf.
„Tut mir Leid, ich kann das nicht“, hauchte er und verschwand.
Das Ticken verstummte.


So viel verschenkte Zeit hatte es in seinem Leben gegeben, dass es ihn überraschte, dass er noch lebte. Und dass er die Blüte des Lebens noch vor sich haben sollte. Aber hatte es jetzt überhaupt noch Sinn, sich über all die Dinge Gedanken zu machen, die ihn dazu trieben, seinen Plan zu verwirklichen? Schließlich war es der einzige Plan, für den er genug Kraft besaß. Alles andere hatte er verpasst oder den Gedanken daran verworfen. Er seufzte.
Vorsichtig zog er sich an der Mauer hoch, die das Dach des Turmes umgab und setzte sich auf ihre Kante. Die Aussicht war unbeschreiblich. Eigentlich war es viel zu schön, um zu gehen. Selbst das laute Treiben der ameisenähnlichen Menschen unter ihm hörte man kaum, dafür aber Vogelgezwitscher, wenn auch nicht allzu laut. Er könnte ja einfach hier bleiben. Hier auf dem höchsten Turm, dann würde alles besser werden. Dann hätte er keine Erwartungen mehr, die andere an ihn stellten, kein Druck und keinen Schmerz.

Klassenausflüge sind die Hölle auf Erden. Nicht nur, dass seine Klasse die fürchterlichste im gesamten Universum war, nein, sie gingen wandern.
Er sah vor seinem geistigen Auge schon die tiefen Abgründe und Abhänge, die vom sicheren Weg hinabführten. Eigentlich wollte er sich von seiner Mutter krankschreiben lassen, doch sie ließ sich nicht überreden und schickte ihn mit einem mürrischen „Geh schon!“ zur Schule. Dagegen konnte er natürlich nichts machen.
Also stolperte er über Baumwurzeln, kleine Hügel und Äste – alles nur, um sich in die Klasse zu integrieren und so zu tun, als würde er alle mögen. Ihn mochten ja alle, er hatte keine Probleme, jedenfalls sollte er keine haben. Er war beliebt, hatte gute Noten – was will man mehr? Nur hatte er Probleme damit, dass er sich verstellen musste. Zwar mochten ihn alle, wiederum mochten sie aber auch nur den, den sie glaubten zu kennen. Wenn er zu sich stehen würde, hätte er das Problem nicht.
Sein ehemals bester Freund unterhielt sich lachend mit einem anderen Jungen und stupste ihn an. Scheinbar hatte er ihm gerade einen Witz erzählt, jedenfalls sah er so immer aus, wenn er über etwas lachte.
Er fuhr sich durchs Haar und holte seine Klasse auf.
„Hey“, hörte er eine Stimme neben sich. Es war die blonde Klassenschönheit, die schon seit einer halben Ewigkeit hinter ihm her und der Meinung war, dass sie ein gutes Paar abgeben würden. Aber sie wusste ja auch nicht, dass er nicht auf Frauen stand, also ließ sie nicht locker.
„Hey“, antwortete er resigniert und achtete nicht auf sie, sondern richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Jungs vor ihm. Ob zwischen den beiden etwas lief? Hatte er sich so schnell einen Neuen gesucht? Nein, dafür war er nicht der Typ. Oder doch?
„Na, wovon träumst du gerade? Du siehst so aus, als wärst du in Gedanken ganz woanders“, entgegnete sie verschmitzt lächelnd und legte ihm die Hand auf die Schulter. Reflexartig zuckte er zurück und ihre Hand glitt von seiner Schulter, was sie zunächst zu verunsichern schien, doch sie fing sich schnell wieder.
„Nein, es ist nichts“, sagte er harsch und ging einen Schritt schneller, um seinen anderen Kumpel zu erreichen, der ebenfalls allein und nachdenklich am Rand der Gruppe mitging.
„Hey!“, sagte er und klopfte dem anderen Jungen auf den Rücken und grinste. Dieser schaute erschrocken auf und drehte sich weg. „Was ist denn los?“
Er ging wortlos weiter. Was...?
„Warte!“, rief er, doch schon drehte er sich um und schaute ihn ungläubig an.
„Ich warte nicht auf Schwuchteln! Damit das klar ist!“
Entsetzt blieb er stehen. Und nicht nur er, auch die gesamte Klasse hatte ihre Auseinandersetzung mitbekommen und starrten ihn an. Woher...? Hatte er sie gesehen?
Abgründe taten sich auf, wollten ihn verschlingen. Sie hatten sein Leben geschändet und ihn eingesperrt. Er würde nie mehr frei sein, nie mehr entscheiden können, was aus ihm werden konnte und was nicht.


Die Erinnerungen schmerzten.
Nicht nur, dass er seine große Liebe und seinen besten Freund verloren hat, ihm wurde die Chance auf eine Zukunft genommen, schließlich konnte er nach dem Vorfall nicht weiter an der Schule bleiben.
Und jetzt saß er hier oben, der Ausblick war atemberaubend und er würde bald sterben. Aber warum? Hatte er gar keine Chance mehr? Konnte er nicht doch auf irgendeiner Art und Weise glücklich werden?
Als er so den blauen Himmel betrachtete und die Aussicht genoss, glaubte er ganz fest daran. Die Narben seiner Seele würden heilen können, wenn auch langsam. Er könnte neu beginnen. Irgendwo, nicht hier.
Vielleicht würde er dann auch endlich sich selbst kennenlernen. All die Dinge, die passiert waren, hatten ihn zwar gezeichnet, doch war das nicht normal? Hatte nicht jeder Mensch mit seinen Lastern zu kämpfen?
Es war alles so friedlich hier oben, von hier konnte er auch die Flugzeuge betrachten. Noch nie hatte er sie so nah gesehen, es schien so, als könnte er sie berühren.
So frei, unbeschwert und glücklich war er schon lange nicht mehr gewesen. Tief einatmend schloss er die Augen, gerade als ein lautes Geräusch immer näher kam. Irritiert blickte er auf, schaute sich um, um den Ursprung dessen zu finden. Schnell wurde ihm klar, dass er nicht halluzinierte. Vor ihm wurde etwas größer und größer. Es war kein Vogel, es war ein Flugzeug.
Vom Grauen gepackt, versuchte er sich auf die andere Seite der Mauer zu bugsieren, stolperte jedoch und fiel hin. Schnell rappelte er sich auf, rannte los. Schneller und schneller. Die Tür ins Gebäude war noch offen, doch er sah, dass es zu spät war. Jeden Augenblick würde das Flugzeug in das Gebäude knallen. Und dann würde er tot sein. Das, was er doch eigentlich wollte.
Jetzt aber nicht mehr!“, schrie sein Unterbewusstsein panisch, stachelte ihn an, es wenigstens zu versuchen.
Es war zu spät. Das Beben kam vor dem Geräusch; ein schepperndes, knallendes, ohrenbetäubendes Geräusch, das mein Trommelfell platzen ließ. Es war zu spät.

Sein Lächeln […]
Unsere Blicke treffen sich zum ersten Mal seit Langem […]
… unsere Körper berühren sich […]

Nichts würde mehr sein.
Wir würden nicht mehr sein.
Ich würde nicht mehr sein.
Nur dieser kleine Augenblick war Schuld.


Es war zu spät.

______________________
"It is so much easier to get people to hate something, than to believe."
- Peter Pan (OUAT)


Zuletzt geändert von Brexpiprazole am Mo 2. Mär 2015, 23:08, insgesamt 2-mal geändert.
Grund: Autor ergänzt


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Keine Angabe 
BeitragVerfasst: Fr 12. Okt 2012, 16:43 
Pink Panther
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Registriert: Mi 1. Feb 2012, 14:55
Beiträge: 2571
Punkte: 19

Danke gegeben: 452 mal
Danke bekommen: 382 mal

Last but not least - und ich entschuldige mich im Voraus, falls diese Rezension etwas schludrig ausfallen sollte, gegen Ende hetze ich immer ein bisschen - möchte ich etwas zu meinem persönlichen Platz 5 schreiben, "Als der Augenblick die Zeit außer Kraft setzte".

Der Titel sticht einem natürlich bezüglich der Länge sofort ins Auge, nimmt aber der Geschichte trotzdem nichts vorweg und man bemerkt erst am Schluss des Textes den Zusammenhang. Der kommt übrigens etwas unerwartet, aber nicht allzu überrumpelnd, und verfehlt seine tragische Wirkung nicht. Gerade das Echo des "Es war zu spät" hinterlässt ein leicht flaues Gefühl in der Magengrube. Ob es im Vergleich zum kursiven Teil etwas zu drastisch erscheint, darüber lässt sich streiten und ich bin mir selbst nicht ganz sicher, um ehrlich zu sein...

Die Thematik der Rückblenden hat mir übrigens sehr zugesagt. Ich habe bis jetzt selten Geschichten über homosexuelle Liebe gefunden, die nicht aus der Erotikbranche stammen, und die immer noch herrschende Homophobie macht den erlittenen Liebeskummer des Protagonisten nur noch schlimmer, sodass sich nachvollziehen lässt, warum er vorerst den Suizid wählt. Dass er im letzten Moment Zweifel bekommt, macht ihn menschlich, und als Charakter gefällt er mir deshalb.

Das ist jetzt bestimmt eine blöde Frage, aber sind die letzten kursiven Absätze von dir geschrieben? Die [...] verwirren mich hier ein wenig...

Ansonsten gibt es hier nicht viel zu meckern, bis auf ein oder zwei kleine Macken ist der Stil gut und die Geschichte lässt sich schön lesen, unterhält dabei und bleibt größtenteils frei von Klischees. Zwar mochte ich deinen Beitrag für den letzten Schreibwettbewerb lieber, doch "Als der Augenblick die Zeit außer Kraft setzte" hat mir auch recht gut gefallen. Von daher freue ich mich darauf, beim nächsten Contest wieder von dir zu lesen! Schließlich weiß ich auch von Werken, die du außerhalb des Wettbewerbs verfasst hast, dass du durchaus Talent hast.

______________________
The king's spirits are low; what for, then, should the concubine live?


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