Forum Header
* Anmelden * * Registrieren * * Ränge * * Spenden *
* leer. *
Aktuelle Zeit: So 28. Apr 2024, 18:02

Ungelesene Beiträge | Neue Beiträge | Eigene Beiträge


Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde [ Sommerzeit ]




Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 6 Beiträge ] 
Autor Nachricht
Offline
Weiblich 
BeitragVerfasst: Do 4. Okt 2012, 20:07 
Pink Panther
Princess Luna
Benutzeravatar

Registriert: Di 22. Mai 2012, 10:44
Beiträge: 2645

Danke gegeben: 474 mal
Danke bekommen: 540 mal
 Betreff des Beitrags: [2. SW] Beinfreiheit. (Nix)

Beinfreiheit.

Aber meistens flossen die Füße einfach an ihr vorbei, wirbelten mikroskopische Staubkörnchen auf, die langsam auf den Asphalt niederschneiten. Der Herbst war trocken und dumpf. In der Regel hatten die Beine es eilig, hasteten in schwarzen Stiefeln, brauen Lederschuhen und roten Pumps vom einen Fensterende zum Anderen, manche zogen Hunde mit sich, andere wurden begleitet von einem Stock. Ein Paar glänzende Stiefeletten mit schwarzen Strumpfhosen stöckelte vorbei, und Ines fragte sich, ob es schon sehr kalt war, denn der obere Saum war mit Pelz verkleidet.
Früher hatte sie manchmal versucht, die Scheibe zu erreichen. Hatte sich gegen die Kette gestemmt, die Finger gereckt, im verzweifelten Versuch, die Beine durch Klopfen auf sich aufmerksam zu machen. Hinter einer Welle im rauhen Betonboden hatte sie ein Schottersteinchen gefunden und es gegen das verspiegelte Glas geworfen. Aber Füße hören nicht, und wenn, hätten sie nicht in den Keller sehen können, denn die schwarze Folie hatte das Fenster in eine Einbahnstraße verwandelt, die nur Blicken in Richtung Straße einen Passierschein überreichte.
Damals war er immer dienstags zu ihr gekommen, und samstags. Und trotz der Angst war sie jedes Mal überglücklich gewesen, ihn zu sehen, den einzigen Menschen, der ihr auch seinen Körper oberhalb der Knie offenbarte, seine Schenkel, seine Hüften, die Brust, Arme, Rücken, und das von dunkelbraunem Gestrüpp zugewucherte Gesicht, in das sie niemals blicken konnte, weil seine Augen in ihren brannten und den Schmerz bis in den Magen schmorten, denn niemand kann den Menschen ansehen, der mit bleichen Fingern sein Leben umklammert hält.
Ein dicker Basset-Hound schnupperte resigniert am Rahmen. Sein Gesicht musste nicht richtig befestigt gewesen sein, denn im Laufe der Jahre war es von seinem Schädel gerutscht und schaukelte jetzt faltig über dem Boden, bei jeder Bewegung weiße Speichelfäden schwenkend. Zwei graue Schuhe zogen ihn fort.
Seit zwei Tagen war der Kühlschrank leer. Nur ganz hinten stand noch eine Dose Kidneybohnen, aber die konnte sie nicht erreichen, die Kette war zu kurz. Zwei Dienstage waren vergangen und drei Samstage, und Ines wusste, er würde nicht wiederkommen. Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt, vielleicht lagen seine Gedärme in matschigem Rostrot über der A1 verstreut, vielleicht war es auch ein Herzinfarkt oder eine verquere Fischgräte gewesen. Vielleicht war sie ihm auch einfach nicht mehr wichtig.
Die Wanderschuhe schleiften einen Koffer hinter sich her, holpernd mühten sich die Plastikräder über den Randstein und verblassten hinter den braunen Hosenbeinen. Cord war seit einem Jahr wieder in.
Bei seinem letzten Besuch hatte er Joghurt mitgebracht und Orangensaft, mit einem feuchten Lappen hatte er ihren Körper gewaschen und sich dann neben sie gesetzt, ihre Beine gestreichelt, aber er war zu müde gewesen für mehr. Kurz hatte sie geweint, salzig war das Wasser auf den kalten Boden getropft und hatte dort kleine, weiße Ränder hinterlassen. Ob sie nicht zumindest einen Brief an ihre Familie schreiben dürfe, hatte sie gefragt, da war er aufgestanden und gegangen, der Reihe nach hörte sie, wie sich die vier Riegel von unten nach oben vor die Tür schoben, dann verdunsteten seine Schritte im Gang und sie war wieder allein gewesen, allein mit den Füßen, von denen einer gerade stolperte und sich gerade noch fing, bevor der Körper darauf zu Fall kam.
Als er eine Woche lang nicht bei ihr gewesen war, wusste sie, dass sich etwas geändert hatte. Und seit zwei Tagen befand sich ihr Körper im Wandel. Langsam zog sich der Bauch nach innen zurück und umkrampfte panisch die letzten Speisereste, die er in sich gefangen halten konnte. Es würden keine mehr nachkommen. Niemand würde mehr kommen und den kleinen Kühlschrank füllen, den grünen Eimer ausleeren oder sie berühren. Keines der vielen Beinpaare würde hören, wie sie zungenlos das Glas anschrie. Seit zwei Tagen hatte sie den Gipfel hinter sich gelassen und rutschte stetig tiefer ins Tal. Und wie sie sich langsam, mit dem Rücken am Holzpfosten, niedersinken ließ, schlitterten die goldenen Sandalen in das Häufchen des Basset-Hounds.

______________________
Mundus frigidum est
- manetque!
http://mundusfrigidus.blogspot.co.at/
"Die ultimative Anleitung, endlich richtig zu schreiben."


Zuletzt geändert von Brexpiprazole am Mo 2. Mär 2015, 23:07, insgesamt 2-mal geändert.
Grund: Autor ergänzt


Nach oben
   
 
Offline
Keine Angabe 
BeitragVerfasst: Do 11. Okt 2012, 22:51 
Pink Panther
Benutzeravatar

Registriert: Mi 1. Feb 2012, 14:55
Beiträge: 2571
Punkte: 19

Danke gegeben: 452 mal
Danke bekommen: 382 mal
 Betreff des Beitrags: Re: Beinfreiheit. (Nix)

Ich sagte ja schon bei deiner Anmeldung für den Wettbewerb: Wenn du mitmachst, können wir alle einpacken. Und wie ich es eigentlich erwartet hatte, stellte sich "Beinfreiheit." schließlich als mein persönliches Lieblingswerk des Wettbewerbs heraus. Wenn du das hier in gerade mal einer halben Stunde niedergeschrieben hast, frage ich mich, wie schön sich dann wohl Prosa liest, an der du längere Zeit sitzt. [/arschkriecherei]

Anhand deines Stils wird ziemlich deutlich, dass du eher der Lyrik zugetan bist, aber durchaus im positiven Sinne: Er ist sehr malerisch, mit schönen Vergleichen und ungewöhnlichen Formulierungen, was ja wichtig ist, um gerade kurze Gedichte zu etwas Außergewöhnlichem zu machen, während man bei Prosa auch allein mit einer interessanten Handlung Erfolg haben kann.

Hier findet sich jedoch beides: Ein schöner Schreibstil UND ein kurzer, aber ungewöhnlicher Plot. Die Balance zwischen Offen Gelassenem und Gesagtem ist sehr gelungen: Man muss nicht viel nachdenken, um zu erkennen, worum es geht, aber es wird einem auch nicht direkt vor die Nase gehalten. Man weiß nicht alles, was mit dem Mann geschehen ist, bleibt im Dunkeln, aber Ines weiß das genauso wenig und die Geschichte wird schließlich aus ihrer Perspektive erzählt.

Ich kann nicht mal sagen, was ich besonders mochte. Ich mochte die Details der Beobachtungen, wie die Hosenbeine aussahen, ich mochte auch das Ende, bei dem sie ja in vielerlei Hinsicht abrutscht. Ich mochte auch den Anfangssatz, gerade wegen des "Aber", weil ein Beginn in medias res sofort fesselt.

Ich kann eigentlich nichts mehr sagen, das nicht sinnloses Rumgeschleime wäre, aber ja, ich finde "Beinfreiheit." sehr, sehr toll und bedauere es ein wenig, dass die Geschichte es nicht einmal in die Top 3 geschafft hat, denn das hätte sie in meinen Augen verdient.

______________________
The king's spirits are low; what for, then, should the concubine live?


Nach oben
   
 
Offline
Weiblich 
BeitragVerfasst: Fr 12. Okt 2012, 13:24 
Pink Panther
Princess Luna
Benutzeravatar

Registriert: Di 22. Mai 2012, 10:44
Beiträge: 2645

Danke gegeben: 474 mal
Danke bekommen: 540 mal
 Betreff des Beitrags: Re: Beinfreiheit. (Nix)

Im Grunde kann ich mich nur sehr herzlich bedanken, so viel Lob hatte ich definitiv nicht erwartet. *sniff*
Ich persönlich mochte z.B. die Geschichte vom Paten viel lieber, und konnte es gar nicht glauben, dass mich jemand auf Platz eins wählt. :blush:
Auf jeden Fall werd ich heut auch noch deine Geschichte kommentieren (Nachmittag/Abend sollte ich Zeit haben), ansonsten, wie gesagt, einfach nur ein dickes, herzliches "Danke!". (:
BeurreEtPain hat geschrieben:
Wenn du das hier in gerade mal einer halben Stunde niedergeschrieben hast, frage ich mich, wie schön sich dann wohl Prosa liest, an der du längere Zeit sitzt.

Theoretisch könnt ich dir was schicken, praktisch sind meine lang-dran-sitz-Werke auch nicht viel besser.^^

______________________
Mundus frigidum est
- manetque!
http://mundusfrigidus.blogspot.co.at/
"Die ultimative Anleitung, endlich richtig zu schreiben."


Nach oben
   
 
Offline
Weiblich 
BeitragVerfasst: Fr 12. Okt 2012, 13:59 
Pinkie Pie
Benutzeravatar

Registriert: Di 31. Jan 2012, 22:51
Beiträge: 6176
Punkte: 5

Danke gegeben: 1406 mal
Danke bekommen: 877 mal
 Betreff des Beitrags: Re: Beinfreiheit. (Nix)

Ich hab zwar nicht abgestimmt, weil ichs nicht auf die Kette gekriegt hab, alle Geschichten zu lesen, aber deine fand ich besonders toll. :wub:

______________________
Bei jedem Atemzug stehen wir vor der Wahl das Leben zu umarmen, oder auf das Glück zu warten.


Nach oben
   
 
Offline
Keine Angabe 
BeitragVerfasst: Fr 12. Okt 2012, 14:26 
Pink Panther
Benutzeravatar

Registriert: Mi 1. Feb 2012, 14:55
Beiträge: 2571
Punkte: 19

Danke gegeben: 452 mal
Danke bekommen: 382 mal
 Betreff des Beitrags: Re: Beinfreiheit. (Nix)

Nix hat geschrieben:
Theoretisch könnt ich dir was schicken, praktisch sind meine lang-dran-sitz-Werke auch nicht viel besser.^^

Sie müssen ja nicht viel besser sein, wenn sie auf dem gleichen Level wie "Beinfreiheit" sind, lese ich sie auch sehr gerne!

______________________
The king's spirits are low; what for, then, should the concubine live?


Nach oben
   
 
Offline
Männlich 
BeitragVerfasst: Fr 12. Okt 2012, 16:18 
Pinkie Pie
I estava bé!
Benutzeravatar
Minibildchen

Registriert: Di 31. Jan 2012, 17:49
Beiträge: 17035
Punkte: 21

Danke gegeben: 3641 mal
Danke bekommen: 2265 mal
 Betreff des Beitrags: Re: Beinfreiheit. (Nix)

Meine Anmerkungen werden wohl kürzer ausfallen als die von BeurreEtPain, hauptsächlich deshalb, weil es sich nicht lohnen würde, das meiste doppelt zu erwähnen. Beginnen möchte ich mit dem Platz 1 meiner Abstimmung.

Bereits nach dem ersten Wort war mir völlig klar, dass dies die Geschichte von Nix ist. Geschichten mit "Aber" oder "Und" zu beginnen, ist sehr typisch für ihren Stil, wobei ich persönlich "Und" immer noch einen Tick schöner finde.
Direkt in den ersten Zeilen beginnt die Geschichte, die mir übrigens von Nix' Prosa, soweit sie mir bislang zu Augen gekommen ist, am besten gefällt, zu begeistern. Hier werden nicht nur die vorbeilaufenden Beine beschrieben, die von der Protagonistin wahrgenommen werden - auf diese Idee hätte man auch mit weniger Talent kommen können; vielmehr stehen die Beine hier pars pro toto für die vorbeieilenden Menschen: "In der Regel hatten die Beine es eilig". Später in der Geschichte wird dieses Bild von den vorbeieilenden Beinen noch an weiteren Stellen verwendet, und obwohl im Prinzip ja immer dasselbe beschrieben wird - Schuhe, die von ihren Trägern an einer Scheibe vorbeigeführt werden -, ist die Schilderung sehr abwechslungsreich. Nix zeichnet sich durch eine sehr beobachtungsgenaue Sprache aus, die ich sehr schätze und die den Geschichten einfach das gewisse Etwas verleiht.
Die Beschreibungen der Gefangenschaft sind sprachlich nicht minder gut gelungen. Auch thematisch fesselte die Beschreibung (Das war ein schwacher Wortwitz, ich bekenne.), und das kann ich bei Nix' Themen nicht immer behaupten.

Lange Zeit dachte ich, ich fände überhaupt nichts zu kritisieren, da habe ich mich dann aber doch getäuscht. :wink: Negativ fiel mir der folgende Satz auf: "Und seit zwei Tagen befand sich ihr Körper im Wandel." Das wörtliche Zitat des Wettbewerbsmottos scheint mir einigermaßen plump und 'gewollt' in die Geschichte eingepflanzt, in die es sprachlich nicht wirklich zu passen vermag. Niemand benötigt diesen Satz, auch ohne diesen Satz wäre der 'Wandel', der in dieser Geschichte mit zwei Gesichtern auftritt (der Peiniger kommt plötzlich nicht mehr; die Protagonistin stirbt den Hungertod), mehr als offensichtlich hervorgetreten.
Es bleibt aber bei diesem einen Satz, danach geht es sofort hervorragend weiter. Der letzte Satz ist geradezu frech, was der Geschichte sehr gut steht; ein pointierter Abschluss einer sehr lobenswerten Geschichte.

______________________
»Was kostet die Welt?«

»Oh. Dann ne kleine Limo, bitte!«


Nach oben
   
 
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:  Sortiere nach  
Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 6 Beiträge ] 

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde [ Sommerzeit ]

*

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 33 Gäste


Du darfst keine neuen Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst keine Antworten zu Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht ändern.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.

Suche nach:
Gehe zu:  
cron
* Impressum * * Nutzungsbedingungen * * Datenschutzrichtlinie *
Powered by phpBB® Forum Software © phpBB Group
Deutsche Übersetzung durch phpBB.de