Träumer
Dunkelgraue Wolken ziehen auf. Gewitterwolken, Sturmwolken, die das fahle, kalte Mondlicht immer mehr verdecken. "Schließ die Augen, dann klingt der Regen wie Applaus!" Genau erinnert sie sich an die tiefe Stimme, die diesen Satz mit viel zu viel traurigem Enthusiasmus ausgesprochen hat. Düster scheint die Welt, sie verändert sich, durchlebt einen seltsamen Wandel zwischen Sein und Nicht-Sein. Die Raupe verpuppt sich, versucht krampfhaft, sich unter einem Blatt vor dem Sturm zu verstecken. "Eines Tages wirst auch du ein prächtiger Schmetterling sein", meinten sie. Dann hatten sie beschrieben, wie es ist, zu fliegen, unbeschwert und frei, fast zu schön für diese Welt. Es heißt, man spürt seinen Körper nicht mehr, und dann doch wieder ganz, man fühlt vollkommen lebendig. Das Mädchen nimmt die Leichtigkeit wohl zu ernst. Das Einzige, was nun noch strahlt, sind seine Augen, die den Rest des milchigen Lichtes, den der Regen noch nicht verschluckt hat, zu reflektieren scheinen. Himmelblau mit gelblichen Einschlägen. Ein Muster, so kompliziert in einander verwoben und verstrickt wie das Leben selbst. Strahlende Augen, in denen sie ein Universum wiederentdeckt. Das Universum, grünlich-türkis glitzernd, wie das Edelsteinpulver, das sie ihrer kleinen Schwester geschenkt hat, als sie noch klein war. Es ist der 12. November und Irgendetwas ist anders in dieser Nacht. Irgendetwas läuft falsch. "Es ist meine Schuld. Alles meine Schuld", murmelt sie, da bricht ihre Stimme. "Du nimmst das Ganze viel zu ernst", nimmt sie wieder seine tiefe, tröstliche Stimme war. "Können 2 Menschen wirklich die Welt verändern?" Und dann Kälte.
Der Wind reißt Blätter von den Bäumen, matschig braun fallen sie auf den Asphalt. Barfuß rennt sie weiter durch die nassen Straßen, zitternd, frierend. Der Boden brennt unter ihren Füßen, doch das ist das Letzte, was noch zählt. Es stürmt nun stärker, Schneeregen, ja beinahe Hagel fällt vom dunklen, grauen Himmel. Wenn man nach oben schaut, sieht es aus als hätte die Nacht die Sterne verschluckt. "Komisch, normalerweise glitzert das Universum. Türkisblau, schwarz, manchmal sogar golden", flüstert sie und schlingt den Strickschal, den sie sich kurz bevor sie fliehen musste übergestülpt hat, enger um ihren Hals. Es scheint so unwirklich. Eine Hetzjagd gegen die Zeit.
Sie wird ihn verlieren, denn er hat jetzt schon Mühe, mit dem Mädchen Schritt zu halten. Durch den Kopf der 18-jährigen rasen tausend Gedanken. Zu viele Gefühle auf einmal: Angst, Trauer, Mut, ein klitzekleines, funkelndes Stückchen Hoffnung, kindlicher Übermut. Und Liebe. Vor allem Liebe. "Chara, lass uns verschwinden. Wir können es noch rechtzeitig schaffen, wenn wir jetzt sofort die Stadt verlassen", versucht er sie umzustimmen. Doch Entschlossene lassen sich nicht so schnell aufhalten. Kurz hält sie inne, um ihm einen ungläubigen, verzweifelten, aber vor allem wütenden Blick zuzuwerfen und dann sofort weiterzulaufen. Ruhe- und rastlos. "Ich will aber nicht weggehen. Ist eh schon zu spät. Wenn ich sterbe, dann wenigstens hier." Er unterbricht sie mit fester Stimme: "Aber was, wenn..." "Ja, was, wenn wir von einer Zombie-Invasion angegriffen werden? Was, wenn uns eine Herde Büffel überrennt? Wirst du noch da sein?", fällt sie ihm in gewohnt sarkastischem Ton ins Wort. Mittlerweile sind sie am Waldrand angelangt und bahnen sich mühsam den Weg durch das Dickicht. Kopfschütteln. Wenn er das macht, sieht er aus wie ein Hund. Sie muss lachen, doch es vergeht ihr bald, bleibt in ihrer Kehle stecken. "Du verstehst nicht. Sie ist meine Schwester." Wenn du einen Moment lang nicht aufpasst, verlierst du. Sie stolpert über eine rutschige Wurzel und fällt zu Boden. Erde mit Blut. In dieser Dunkelheit kann man beides ohnehin nicht mehr voneinander unterscheiden. "Chara, ich bitte dich. Geht's dir noch gut? Liebes, willst du hier draußen sterben? Sie ist 12. Die kann auf sich selbst aufpassen. Wahrscheinlich ist sie schon längst weit, weit weg." "Weißt du was? Lieber hier sterben als woanders. Sie ist ein Kind, verdammt! Sie würde nicht ohne mich fliehen. Nicht ohne ihre große Schwester", spricht sie keuchend. Ihre Beine schmerzen höllisch, doch das ist egal, denn sie ist entschlossen, ihr Ziel zu erreichen. Doch wo ist das Ziel überhaupt? Plötzlich wird der Himmel von einem Blitz erhellt. Heute ist alles anders. Schon stundenlang suchen sie. Nach dem Erdbeben sind die Menschen alle weggerannt. Unter anderem ihre Schwester. Ihre Schwester war immer eine Träumerin. Sie würde nicht sterben. Und wenn, dann würde es unbeschwert ablaufen.
Narben verblassen. Blaue Flecken werden erst grün, gelb, dann hoffnungsvoll bunt, bevor sie schließlich ganz verschwinden. Doch Erinnerungen verweilen länger in unseren Köpfen. Weil sie nicht durch ein einziges Lächeln wieder auszulöschen sind. Durch keinen Schmetterlingskuss. Narben brennen sich in ihr Herz ein. Auch die Zeit heilt sie nicht.
"Lassen wir es. Ich will nicht, dass du auch noch .... verloren gehst", meint er zögernd und nimmt sie in seine starken Arme. Auf einmal wird sie nachdenklich, während sie mit einem Stock Muster in den Schlamm zeichnet, die sofort vom Regen ausgelöscht werden. Das Leben ist vergänglich. "Weißt du, eigentlich ist das Sterben leicht. Es ist lediglich die Angst davor, die es uns schwer macht." Sie spricht diese Sätze mit zufriedener Miene, denn sie weiß, dass sie wahr sind. "Darf ich noch etwas schreiben, bevor wir gehen?", fragt sie seufzend. Er reicht ihr Papier und Stift. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen, nur der Wind wirbelt noch immer Staub und buntes Laub durch die Luft. In ihren Augen glitzert der Wind wie funkelnde Diamanten in der Sonne. "Liebes Schwesterherz. Falls du dies jemals lesen solltest, und ich weiß, du wirst es lesen, dann sei dir gewiss, dass ich dich liebe. Ich habe versucht dich immer zu beschützen. Du bist meine kleine Träumerin. Wo bist du?.." Die Erde fängt erneut an zu Beben, Bäume fallen, der Stift liegt am Boden. Sätze, die noch nicht ausgesprochen wurden, Sätze, die niemals geschrieben werden, Wortfetzen hängen in der Luft.
Morgengrauen. Auf den Bergspitzen kann man die ersten Sonnenstrahlen erkennen, sie tauchen die Erde in eine Atmosphäre, die einen optimistisch stimmt.
Unter einem Stein, versteckt und vom Regen geschützt liegt eine Notiz. "Ich bin nicht weg. Ich bin im Land der Träumer. Nur einen Flügelschlag entfernt."
Alle Bäume sind kahl, nackt, entstellt. Lediglich an dem, was man einmal einen Haselstrauch nennen konnte, hängen noch einzelne Blätter. Unter einem von ihnen lebt die kleine Raupe. Eines Tages wird sie ein Schmetterling sein, sich verwandeln, fröhlich und unbeschwert über das Land fliegen, als hätte es diese Nacht nie gegeben. Denn irgendwann werden wir alle erwachsen. Selbst die Träumer.
______________________ "I don't like people and sarcasm is my only defense"
Zuletzt geändert von Brexpiprazole am Mo 2. Mär 2015, 23:05, insgesamt 2-mal geändert. |
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