Die Geschichte vom gelben Löwenzahn und dem blauen Schmetterling
"Wenn der Löwenzahn sich blau verfärbt, wenn der Regen seine Lieder spielt und der Schmetterling im Grabe ruht, wird die die Welt sich wandeln und nimmermehr so sein wie sie einst war."
Ein blauer Schmetterling zog in großen Kreisen seine Runden. Mal zog er höher und ließ sich über die Köpfe der Menschen treiben, mal flog er dicht über dem Boden und betrachtete das Gras. Hin und wieder ließ er sich für einen kurzen Moment auf einem der blühenden Löwenzahnpflanzen nieder, der mal hier mal da auf der Wiese emporschoss, aber immer so leichtfüßig und bedacht, dass man sich nicht sicher sein konnte, ob er seinen Flügeln eine kurze Ruhepause gönnte oder er einfach nur angelockt vom lieblichen Duft die Blume bestaunte. Er schmeckte ganz gut. - Den Löwenzahn meinte sie natürlich. Vor allem wenn die Blüten gelb leuchteten und man sie schon von weitem erkennt, dann schmeckten sie süßlich. Als kleines Kind hatte sie es nicht lassen können hin und wieder eine der Sonnen abzupflücken und sich in ihren Mund zu stecken. Sie hatte sich glücklich gefühlt, der Natur so nah zu sein. Ihr Lachen hatte selbst einmal über diesen Spielplatz geschallt, so wie sie jetzt im Hintergrund die Klänge von glücklichen Kindern vernahm. Die Welt war so einfach als Kind. Es gab nur das Hier und Jetzt, und jeder einzelne Moment wurde genossen. Man konnte viel lernen von ihnen. Genauso wie von diesem Schmetterling. Gerade hatte er den nächsten Löwenzahn erreicht. Seine Flügel sirrten in der Luft und reflektierten das strahlende Sonnenlicht. Zumindest stellt sie sich vor, dass sie sirrten. Aus der Entfernung konnte sie es nicht hören. Aber sie stellte es sich vor. Er flatterte ein paar Mal mit den Flügeln, dann ließ er sich nieder, beschnupperte die Blüte und atmete ein. Unwillkürlich atmete auch sie ein und spürte die frische Luft in ihren Lungen. Sie schaute nach oben. Der Himmel war klar, kaum Wolken waren zu sehen. Einer der ersten schönen Sommertage. Es war nun Ende Mai. Auf der Wiese lagen viele Pärchen auf Decken verteilt. Auch sie schienen glücklich zu sein, genossen einfach das Beisammensein an diesem schönen Tag. Sie konnten es also doch, die Menschen. Glücklich sein. Aus der Ferne hörte sie den Glockenschlag eines Kirchturms, der die Gläubigen zur Mittagsmesse rief. Das laute Klingeln einer Straßenbahn und die Geräusche der bremsenden und beschleunigenden Autos mischten sich unter die Schläge und verschmolzen zu etwas, dass sie gerne „Stadtgedärm“ nannte. Das Wort hatte sie als Kind immer benutzt, als sie noch nicht richtig sprechen konnte. Ihre Eltern waren mit ihr frisch in die Stadt gezogen. Sie benutzte es heute immer noch, vielleicht weil sie ihr Dorf immer noch vermisste. Als sie den Blick wieder senkte, suchten ihre Augen das blaue Wesen. Sie fand ihn ein ganzes Stück weiter den Weg entlang, fast bei den Bäumen am anderen Ende. Er flatterte scheinbar ziellos hin und her. War er glücklich, weil er kein Ziel hatte? Im Sinkflug ließ er sich auf die hohen Grashalme am Wegesrand nieder. Sie erhob sich von ihrer Bank, und ging langsam den Weg entlang auf ihn zu. Schmetterlinge hatte sie schon eine ganze Weile gemieden. Doch wer weiß, vielleicht war heute der Tag, auf den sie schon so lange wartete. Als sie näher heranschritt, sah sie einen Jungen mit schnellem Lauf in ihre Richtung rennen. Er schaute immer wieder nach oben und über die Schulter, schien nach etwas Ausschau zu halten. Sie sah ihn Laufen, und bekam Angst. Panische Angst. Eiskalt lief es ihr über den Rücken und sie erstarrte. Vom einen auf den anderen Moment war aus dem warmen Sommertag ein kalter Winter geworden. Tief in ihr regte sich etwas, dass sie nicht deuten konnte. Nicht deuten wollte. Mit gewaltiger Willenskraft riss sie sich los und rief „Vorsicht!“, doch der Junge fing seinen Ball, und jubelte. Er wusste nicht, was er getan hatte. Doch sie wusste es. Sie hatte es gesehen. Sie konnte nicht… Mit schnellen Schritten ging sie weiter auf ihn zu und packte ihn an der Schulter. Er grinste sie an. „Hast du das gesehen? Ich hab ihn gefangen. Er war so schnell, und ich hab ihn trotzdem gefangen!“ Dann verstummte er. Sie merkte, dass ihre Augen eiskalt waren. Sie mussten wohl eisblau sein, statt dem üblichen grün. Der Winter, den sie empfand, schien aus ihr herauszustrahlen. Ihre Finger klammerten sich um seine Schulter und sie rang um Beherrschung. Ihr Blick war starr auf ihn gerichtet. Sie traute sich nicht nach unten zu schauen. „Weißt du, was du getan hast?“, fragte sie ihn mit bebender Stimme. „Du hast ihn getötet. Du hast ihn wieder getötet.“ Er schaut sie mit fragenden Augen an. Sie wusste, dass er es nicht bewusst getan hatte, und doch konnte sie ihre Hand nur mit Mühe davon abhalten, ihn zu schlagen. Man schlägt keine Kinder, dachte sie. Ihre Wange begann zu kribbeln. Sie bat den Jungen stumm nach unten zu sehen. Sein Gesicht wandelte sich nun endgültig in das Gegenteil des glücklichen Jungens, der es geschafft hatte, den Ball zu fangen. Er kniete sich nieder. Vielleicht fünf war er. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie jemals fünf war. Aber sie wusste, sie war es gewesen. Die letzten fünfundzwanzig Jahre schienen ihr wie ein falsches Leben. Langsam ließ sie sich neben ihm sinken. Sie war wütend. Wütend auf ihn, wütend auf die Menschen, wütend auf sich selbst. Sie hätte nicht hier sein dürfen. Nun sollte er dafür leiden. Doch ihre Wut ebbte schlagartig ab, als sie glitzernde Tränen in seinen Augen sah. „Ich wollte das nicht…“, flüsterte er. „Ich hab ihn nicht gesehen.“ Sie glaubte ihm. Die Geräusche um sie schienen verstummt. Der Horizont war weniger blau, und das Gras wirkte nicht mehr so saftig. Die Welt war ein Stückchen grauer geworden. „Kommt er in den Himmel?“, fragte der Junge. Sie wusste es nicht. Der Himmel war ein Irrglauben, der Glaubenden einen Weg weisen sollte. Doch er war tröstlich. „Ich weiß es nicht.“, antwortete sie. „Ich glaube schon. Nach dem Tod kommt bestimmt was Schönes.“ Sie biss sich auf die Zunge. „Ja, bestimmt.“ Dieser Junge, er erinnerte sie… „Wir müssen ihn begraben.“, sagte sie hastig. „Siehst du den Löwenzahn da? Bring mir eine Hand voll Blüten, und zehn von diesen langen Blättern.“ Der Junge wischte sich die Tränen weg und sprang auf. Seine Schritte setzte er mit Bedacht, als schien er nun auf seine Füße zu achten. Nach kurzer Zeit kam er wieder und legt die Blumen neben sie. Langsam, Stück für Stück errichtete sie einen Schrein und begrub ihn. Als sie fertig war, betrachtete sie ihr Werk. Wenn sie mal sterben müsste, wollte sie auch in Löwenzahn begraben werden. Es hatte etwas Friedliches. Ein schwacher Schimmer Blau stach durch das Grün und Gelb des Löwenzahns. Der Junge schaute sie an. „Du bist ein guter Mensch.“, sagte er mit ernster Stimme. Ihr helles Lachen erhellte die eisige Stille um sie herum. Sie war kein guter Mensch, aber es tat gut so etwas zu hören. Sie hielt ihm einen der verbliebenen Löwenzahnblüten hin. „Probier‘ das mal.“ Er nahm es und schaute sie ungläubig an. „Du kannst mir glauben. Ich habe sie früher selbst sehr oft gegessen.“ Sie nahm die eine der letzten drei Blüten und steckte sie sich selber in den Mund. Sie schmeckte leicht süßlich, und nach Wiese. Sie konnte nicht sagen, wie Wiese schmeckt, aber es war ein schöner Geschmack. Der Junge aß nun seine Blüte, und grinste. „Woher wusstest du das, dass sie schmecken?“ – „Ein guter Freund hat es mir einmal gezeigt.“ – „Er war bestimmt ein Schmetterling, wenn er sowas wusste.“ Sie lachte wieder. „Wie heißt du?“, fragte sie ihn. „Mischa.“ Sie zuckte zusammen. Langsam fiel sie in ein schwarzes tiefes Loch und unterdrückte ihre Tränen.
Aus ihrem Fenster heraus beobachtete sie die Menschen, die in schemenhaften Umrissen auf der Straße vorbeiliefen. Sie vermutete zumindest, dass es Menschen waren, genau erkennen konnte sie es nicht. Früher hatte sie nie geglaubt, dass Menschen freiwillig nachts herumlaufen würden. Sie hatte Angst im Dunkeln. Hatte immer an den Armen ihres Vaters gezogen, wenn es dämmerte, und gedrängelt, dass sie schnell genug nach Hause kamen. „Es ist gruselig. Schwarz macht Angst.“, hatte sie immer gesagt. Er hatte gelacht, sie auf die Schultern gesetzt und war mit schnellen Schritten nach Hause geeilt. Er war immer gut zu ihr. Da war sie drei gewesen. Ihre Angst vor der Dunkelheit war geblieben, aber nachts ging sie trotzdem manchmal raus. Vor allem wenn ihr Vater schlief und sie Sehnsucht hatte. Dann war ihr ihre Angst nicht wichtig. Auch heute war so ein Tag, doch noch zögerte sie. Zu viele Menschen waren ihr unterwegs, und der Mond war fast verschwunden. Sie hatte gelernt, dass er regelmäßig kleiner wurde, für ein paar Tage ganz verschwand und dann wieder wuchs. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass er gar nicht wirklich wuchs, sondern nur weniger Licht auf ihn fiel und der Rest dunkel war. Dunkel wie die Nacht. Sie konnte sich das nicht so ganz vorstellen. Ihm fehlte doch ganz eindeutig ein Stück. Als hätte jemand etwas von ihm abgebissen. Als sie den abgebissenen Mond genauer musterte, fiel ihr ein Schemen auf, der direkt unter ihm auf der Straße stand. Er schaut zu ihr nach oben. Zumindest vermutete sie das. Er bewegte sich nicht. Wer war das, der dort stand? Sie war alleine mit ihrem Vater, und sie hatten nie Besuch. Schaute er wirklich zu ihr? Sie beugte sich nach vorne und drückte ihre Nase an der Scheibe platt. Doch mehr konnte sie immer noch nicht erkennen. Nur ihre eigenen grünen Augen, die angestrengt in die Dunkelheit starrten. Die hatte sie von ihrer Mutter. Das war das einzige, was ihr Vater je von ihr sagte. Sie vermisste sie auch nicht. Sie hatte nur einen Vater. Ohne den Blick von der Straße zu wenden griff sie rechts neben sich und drückte den Schalter ihrer Nachtischlampe. Bloß gut, dass sie ihren Vater überredet hatte das Bett direkt unter das Fenster zu stellen. Sie mochte es nach draußen schauen zu können, während sie einschlief. Das gleißende Licht ließ sie blinzeln. Das war keine gute Idee gewesen, nun konnte sie gar nichts mehr sehen. Als sie das Licht wieder ausknipste, tanzten lilafarbene Punkte vor ihren Augen. Wie kleine Regentropfen auf einer glatten Oberfläche hüpften sie hin und her. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. Ein lila Punkt verdeckte ihre Sicht, doch sie war sie recht sicher, dass der Schemen sich bewegt hatte. Hatte er sie gesehen? Natürlich, er hatte doch die ganze Zeit hergeschaut. Vielleicht war es eines der Schattenmonster, vor denen sie so sehr Angst gehabt hatte. Doch sie wusste mittlerweile, dass es so etwas nicht gab. Oder sie glaubte es zumindest zu wissen. Innerlich mit sich ringend erhob sie sich vom Bett. Ihr Vater hatte es ihr verboten, alleine rauszugehen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen ihn zu belügen. Er hatte Angst um sie, das hatte sie gesehen. Aber sie musste gehen. Sie zog ihr blaues Jäckchen über und schlich leise in den Flur. Ihre Tür ließ sie einen Spalt offen, denn sie quietschte, wenn man sie schloss. Das hatte sie gelernt bei ihren nächtlichen Ausflügen. Sie lauschte an der Tür ihres Vaters, doch er schien zu schlafen. Unten war alles dunkel. Die Taschenlampe in ihrer kleinen Hand ging sie mit tapsigen Schritten die Treppe hinunter. Sie hatte sie geschenkt bekommen. Vor einem Monat, zu ihrem fünften Geburtstag. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass sie die Angst vor der Dunkelheit wegmachte, wenn sie leuchtet. Und es stimmte, sie hatte weniger Angst. Die Eingangstür war abgeschlossen - nachts durfte niemand rein -, aber die Seitentür war nie zu. Auch das wusste sie. Schon oft war sie hier nach draußen gegangen. Das Gras war feucht unter ihren Füßen und es roch nach Regen. Das hatte sie gar nicht gehört. Hatte sie vielleicht schon geschlafen, vorhin? Sie hatte gar nicht auf ihre Uhr geschaut. Sie konnte die Uhr lesen, darauf war sie Stolz. Ihr Vater hatte es ihr erklärt. Man musste nur wissen, welcher Zeiger der große war, und die Uhr dann wie einen Kuchen in zwölf Stücke teilen. Ihr Vater hatte ihren Geburtstagskuchen so geschnitten. Am Straßenrand angekommen spähte sie hinüber. Der Schemen war noch eine Ecke weitergewesen. Sie blickte in die Richtung. Plötzlich horchte sie auf. Dann hastete sie schnell hinter die kleine Mauer des Nachbarsgartens. Laute Schritte kamen auf ihrer Seite die Straße entlang. Sie wollte nicht entdeckt werden. Sie wusste, dass sie zu jung war, um nachts alleine draußen zu sein. Das hatte ihr Vater ihr gesagt. Leute würden komisch gucken. Doch sie konnte auf sich selbst aufpassen. Ihr war noch nie etwas passiert. Als die Schritte verklungen waren, stand sie auf und eilte auf die andere Seite der Straße. Der Schemen war weg. Hier genau hatte er doch gestanden, oder nicht? Sie leuchtete mit der Taschenlampe an die Hauswand und zum Gartentor ein Stück daneben. Wo war er hin? Und was wollte er hier? Dann hörte sie ein Rascheln. Sie hielt den Atem an. Ganz deutlich, da schluchzte jemand, direkt hinter dem Tor auf der anderen Seite, im Garten. Mit einem schnellen Schritt trat sie an das Tor heran. Ihre Finger zitterten, als sie die Taschenlampe geradeaus richtete. Da war er! Der Schemen. Er hatte lange blonde Haare. Sie wollte hinein, zu dem Menschen, wer auch immer es war. Er wollte zu ihr, das wusste sie. Spürte sie. Aber das Tor war verschlossen und sie war zu klein um darüber zu klettern. Sie blickte nach rechts, doch die Mauer war zu hoch. Kurz überlegte sie, dann ließ sie sich auf den Boden fallen und robbte Stück für Stück unter dem Tor hindurch. Sie spürte, wie ihre Hose aufriss, doch das war ihr egal. Ihr Knie fing an zu brennen. Die Steine waren spitz und rau. Doch sie war kein weinerliches Mädchen. Sie war tapfer. Fast so wie ihr Vater. Und sie wollte den Schemen sehen. Sie rollte sich noch ein Stück, dann stand sie auf. Ihr Taschenlampenlicht fiel auf die Stelle vor dem Baum, doch er war verschwunden. Sie leuchtete nach rechts und links, in jede Ecke, doch sie fand kein Zeichen mehr. Enttäuscht ließ sie den Kopf sinken. Jetzt würde sie ihn nicht mehr finden. Gerade wollte sie umdrehen und erneut unter dem Tor hindurchkriechen, da bemerkte sie einen Farbtupfer aus dem Augenwinkel. Die Taschenlampe in der Hand schritt sie zu dem Platz, wo der Schemen gestanden hatte. Sie kniete sich hin und streckte ihre Hand aus. Das war das einzige, was sie nun noch hatte. Die einzige Spur zu diesem Menschen. Vielleicht half es ihr. Sie nahm es zumindest als Zeichen, ließ es in ihre Tasche gleiten und trat den Rückweg an. In ihrem Zimmer angekommen, legte sie die Taschenlampe zurück auf ihren Schreibtisch. Ihre kaputte Hose ließ sie hinter ihrem Schrank verschwinden. Ihr Vater sollte das besser nicht sehen. Er würde schimpfen. Und wenn er dachte, dass sie ihn nicht sah, würde er traurig sein. Und sie wollte nicht, dass er traurig ist. Als sie sich wieder bettfertig gemacht und einen letzten Blick aus dem Fenster geworfen hatte - der Schemen war natürlich nicht mehr da -, legte sie sich zurück ins Bett. Still beobachtete sie den gelben Löwenzahn, den sie auf ihren Nachttisch gelegt hatte. Warum sie ihn wohl verloren hatte? Dann schlief sie ein.
Der Regen trommelte mit lauten, klackenden Geräuschen auf den Boden und die Bäume. Er dämpfte alle Geräusche um ihn herum. Die Welt schien still geworden, außer den Regen vernahm er nichts. Gleichzeitig nahm der Regen ihm auch die Sicht. So große Tropfen hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Eingehüllt vom Regen und seiner nassen Kleidung, ohne Zugang zur Außenwelt, fühlte er sich fast so als wäre er es, der dort unten in der Holzkiste lag. Die Welt weinte. Sie trauerte mit ihm. Diesen Regen würde er nie vergessen. Er überdeckte alles. Nur diesen tiefen Abgrund nicht, der sich in ihm aufgetan hatte. In ihn fiel der Regen hinein und verschwand. Der Regen ertrank in der Leere in ihm. Doch er selbst wollte nicht ertrinken. Er krallte die Fingernägel in seine Hand. Er spürte das Brennen, doch es konnte seinen eigentlichen Schmerz nicht überdecken. Noch immer drückte der Regen schwer auf sein gesamtes Sein. Trotzdem hob er den Blick und suchte die blonden Haare unter den umstehenden schwarzen Schemen. Er entdeckte sie, und schritt zögernd auf sie zu. Sie weinte. Er sah die Tränen, erkannte sie unter all den Regentropfen auf ihrem Gesicht, denn er spürte, was sie spürte. Vorsichtig nahm er ihre Hand. Sie schaute ihn in stummer Verzweiflung an. „Ich kann das nicht.“, formten ihre Lippen. Er konnte sie nicht hören, durch den Regen. Doch sie musste nicht reden damit er sie verstand. Er war allein. Er würde alleine sein. Er musste es tun, sie gehen lassen. Sie war zwanzig, und noch viel zu jung. Er nickte und ließ ihre Hand los. „Ich liebe dich“, flüsterte er. Sie drückte ihm einen letzten Kuss auf die Stirn. „Wir sehen uns im nächsten Leben.“, sagten ihre Lippen. Er vermutete es zumindest, klar denken konnte er nicht mehr. Dann schritt sie zu dem Stein. Stumme Tränen rannen über ihre Wangen, als sie etwas auf den Boden legte. Dann verschwand sie für immer. Er war allein. Die schwarzen Schemen um ihn herum berührten ihn nicht. Niemand konnte ihm helfen. Auch seine Tränen begannen wieder zu fließen. Er ließ sich zu Boden sinken, seine Finger berührten die Worte auf dem Stein. >Ruhe in Frieden, Misha.< Daneben ein Schmetterling in Stein gemeißelt. Verzweifelt schloss er die Augen. Er konnte sie verstehen. Aber er konnte nicht auch aufgeben. Sein Leben hatte einen Grund. Er wollte kämpfen. Er musste kämpfen. Für seine Tochter. Als er seine Tränen aus dem Gesicht wischte, fiel sein Blick auf den letzten gelben Löwenzahn, den der Regen langsam blau färbte.
______________________ “And buried deep beneath the waves Betrayed by family To his nation, with his last breath, cried »Beware the Daughter of the Sea«”
Zuletzt geändert von Wolfsblvt am Di 10. Mär 2015, 19:07, insgesamt 1-mal geändert. |
Grund: Titel angepasst |
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