Leaa hat geschrieben:
Meinst du das sich das Singapur System für D denkbar ist?
Ich halte Estonia als Europäisches Land für eher geignet als Musterland zu gelten.
Habe Bekannte die eine E-Residence halten.
auch intern sind sie weiter
https://e-estonia.com/solutions/e-identity/id-card/https://en.wikipedia.org/wiki/Politics_of_Estonia kommt eine Beschreibung am nähesten
So, nun wie von mir zugesagt, antworte ich dir jetzt etwas ausführlicher.
Estland liegt uns natürlich kulturell wesentlich näher als Singapur.
Man muss zwei Dinge unterschieden. Einmal den Grad der Marktwirtschaftlichen Freiheit. Der ist in Estland und in Singapur sehr hoch. Beide Staaten sind wesentlich marktwirtschaftlicher als Deutschland.
Dank seines strikt marktwirtschaftlichen Kurses konnte sich Singapur sehr viel Wohlstand erarbeiten.
Zur Marktwirtschaftlichen Freiheit gehört selbstverständlich der Schutz des Privateigentums, niedrige Steuersätze, niedrige Staatsquote, geringe Korruption, Handelsfreiheit, Finanzielle Freiheit, Preisstabilität, keine Einmischung des Staates in den Arbeitsmarkt usw.
Jeder Unternehmer kann also mit seinem Eigentum machen, was er will. Die Gehälter bestimmen sich nach Angebot und Nachfrage, es gibt keine Quotenregelungen, Mindestlöhne und sonstigen sozialistischen Unfug. Innerhalb kürzester Zeit gibt es Baugenehmigungen und innerhalb von ein paar Tagen kann ein Unternehmen neu gegründet werden.
Zur Marktwirtschaftlichen Freiheit gehört eine sehr niedrige Korruption. Auch da liegt Singapur deutlich vor Deutschland. Deutschland ist beispielsweise hochgradig kriminell bei der Parteienfinanzierung und bei den Nebenverdiensten der Abgeordneten.
https://www.transparency.de/cpi/______________
Die Marktwirtschaftliche Freiheit hat selbstverständlich nichts mit der Politischen Freiheit zu tun. Bei der Politischen Freiheit stehen Estland und Deutschland vor Singapur. Wer in Singapur gegen die Regierung demonstriert, Unterschriftenaktionen gegen die Todesstrafe oder gegen das Auspeitschen von Straftätern startet, kann in Singapur durchaus Probleme bekommen. International wird Singapur als unvollständige Demokratie gewertet, da es an einigen Stellen bei der Politischen Freiheit hapert.
Nur: Das ist eine andere Baustelle, das interessiert den Unternehmer nicht. Er will Geld verdienen, handeln, niedrige Steuersätze und selbst seine Entscheidungen über sein Unternehmen treffen. Die Unternehmer in Singapur sagen auch, dass ihnen das egal ist, wenn Demonstranten ins Gefängnis kommen, so lange sie ungestört Geld verdienen können. Folgerichtig wird deshalb im Wall Street Journal Singapur in höchsten Tönen gelobt. Die Marktwirtschaftliche Freiheit ist erst dann in Gefahr, wenn sich der Staat am privaten Eigentum vergreift. Das ist aber in Singapur ein totales Tabu. So lange die Marktwirtschaftliche Freiheit gegeben ist, ist eine gute Berichterstattung im Wall Street Journal zu erwarten. In Singapur achtet man peinlichst genau darauf, die Forderungen des Wall Street Journal so gut es geht, umzusetzen.
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Was Estland angeht, ist die politische Freiheit deutlich höher als in Deutschland. Beispielsweise hat bei der letzten Parlamentswahl in Estland die EKRE, die von ihrer politischen Zielsetzung her ungefähr der deutschen NPD entspricht, ihre Stimmenanteile auf fast 18 % mehr als verdoppeln können und sitzt seitdem aufgrund ihres Wahlergebnisses von nun mit in der Regierung. Wenn ich mir dann die Zitate des estnischen Innenministers Mart Helme und seines EKRE-Kollegen Jaak Madison durchlese, die da aus der Regierung am laufenden Band in aller Öffentlichkeit rausgeballert werden, dann denke ich mir auch, oh, wei, oh wei, oh wei, das sind schon ziemlich krude Aussagen, die da in aller Öffentlichkeit zum Besten gegeben werden, aber in Estland gilt Meinungsfreiheit für alle. Wenn Sozialisten ihren Müll in aller Öffentlichkeit kundgeben dürfen - ja, das dürfen sie - dann dürfen das auch Nazis. Eine offene Demokratie hält beides aus.
Zweifelsohne würden die Zitate Mart Helmes in Deutschland, wäre er in der Position Seehofers als Innenminister ein gigantisches politisches Erdbeben auslösen. Dagegen sind AfD-Zitate Kindergartengeburtstag. In Tallin sieht man das aber recht locker und verweist auf die Meinungsfreiheit. Gelegentlich, wenn die EKRE wieder einmal ein paar zu harte Schoten rausballert und es zu diplomatischen Misstönen kommt, entschuldigt sich der Koalitionspartner im Ausland. Das ist alles.
Niemand ist gezwungen, sich das zu eigen zu machen. In einer offenen Gesellschaft regelt sich das alles von alleine.
In den USA gilt im Prinzip dasselbe. Wer eine einseitige Berichterstattung pro Trump will, konsumiert Fox oder Breitbart, wer eine einseitige Berichterstattung gegen Trump will, guckt CNN. Über die gewaltsamen Ausschreitungen der Demonstranten in etlichen US-Städten aufgrund des Totschlags eines Polizisten gegen einen Festgenommenen in Minneapolis berichtet jeder Fernsehsender so, wie es seinem unternehmerischem Leitbild entspricht. Das regelt alles der Markt. Maßgeblich sind die Auflagen und Einschaltquoten.
Hierzu ein kleiner Exkurs. An der aktuellen Situation in den USA sieht man ganz genau, dass Trump versucht, die Zielfunktion für seine Stammwähler zu optimieren, keinesfalls für die USA insgesamt. Seine Stellungnahme zu den Ausschreitungen und zum Totschlag des Polizisten belegen das ebenso wie seine Corona-Politik. Da die Coronatoten überwiegend in Bundesstaaten auftreten, die demokratisch wählen, aber die wirtschaftlichen Sperrungen in erster Linie seine republikanischen Stammwähler mit Arbeitslosigkeit usw. betreffen, ist es klar, dass Trump für die Öffnung der Wirtschaft eintritt. Im Hinblick auf seine Chancen im November ist es Trump somit egal, wie viel Coronatote es beispielsweise im Bundesstaat New York gibt, denn New York geht sowieso immer an die Demokraten.
Und bei Trump ist die Situation so, dass er versucht, die Sichtweise seiner treuen Stammwähler über Twitter darzustellen. Im Politikforum haben wird das mal analysiert.
Zurück zu Estland.
In Estland ist - genauso wie in den USA - die Meinungspluralität deutlich größer als in Deutschland. Und auch die Marktwirtschaftliche Freiheit ist in Estland deutlich höher. Bei der Digitalisierung liegt Estland weit vor Deutschland.
Allerdings sollte Estland aufpassen, sich vor lauter Tatendrang sich nicht zu überheben. Interessiert schaue ich nach Estland bezüglich Rail Baltica, also der im Bau befindlichen Eisenbahnstrecke Tallin - Warschau.
Allerdings sollte Estland sich zunächst auf diesen Aspekt konzentrieren. Einen 100 km langen Eisenbahntunnel unter der Ostsee zu graben, damit man in einer halben Stunde von Tallin nach Helsinki mit dem Hochgeschwindigkeitszug fahren kann, ist eine ganz andere Größenordnung. Der Tunnel wäre doppelt so lang wie der Kanaltunnel zwischen GB und F und das Verkehrsaufkommen zwischen Helsinki und Tallin ist längst nicht so hoch wie zwischen London und Paris.
Wo Deutschland zweifelsohne viel zu lahmarschig und schlafmützig ist, ist Estland vielleicht einen Tick zu übermütig.
Grundsätzlich finde ich aber die Innovationsfreudigkeit und den Tatendrang Estlands sehr positiv; aber überheben und zu sorglos sein, sollte man sich auch nicht. Erst recht nicht wenn China das Projekt mitfinanzieren will, denn da drohen einige politische Fußfesseln.
Ich selbst halte die Schweiz für ein Vorbild für Deutschland. Niedrigere Staatsquote, niedrigere Steuern, bessere Infrastruktur, mehr Demokratie, eine bei weitem bessere Verkehrspolitik.
So wie Merkel der Autoindustrie in den Arsch kriecht, ist das wirklich nicht mehr feierlich. Dass Merkel keinen Charakter hat, ist nun wirklich nichts Neues, aber der Autoindustrie beim Vertuschen des Dieselskandals zu helfen und eine knallharte Verkehrspolitik pro Auto zu machen (Dienstwagenprivileg, keine Mineralölsteuererhöhung zu Abgeltung negativer externer Effekte, usw.) sich aber überall als Klimaschützerin aufzuspielen, ist wirklich Heuchelei^3.