Farbenblind
Rot. Er sah rot. Knallrot, um genau zu sein. Seine Mutter hielt ihm einen knallroten Schal vor die Nase. Widerwillig nahm er ihn entgegen. Er wollte ihn nicht, aber seine Mutter hatte sich so eine Mühe gegeben, den Schal extra für ihn zu stricken und draußen war es ja soo kalt. Es ist wirklich sehr kalt, dachte er sich, als er die Straße entlang lief. Er schaute sich ein wenig um. Alles sah aus wie immer; die Bäume am Wegrand; die Autos am Straßenrand; ein Mädchen, das auf einer Mauer entlang lief… Nein, Moment mal, es war nicht alles wie immer. Das Mädchen hatte er an diesem Tag zum ersten Mal gesehen. Sie hatte pechschwarze Haare und auch ihre Kleidung waren komplett schwarz, nur ihre Augen stachen hervor im silbernen Grau. Ihre Augen, ihr Blick, so anders, so faszinierend. Für einen kurzen Augenblick war er hin und weg. Sie bemerkte schnell, dass sie beobachtet wurde und schaute zu ihm rüber. Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke und er sah, wie eine Träne ihre Wange runter kullerte. Beschämt schaute sie schnell weg, er auch. Er fragte sich, was sie wohl hat und überlegte, ob er sie ansprechen sollte. „Ähm…“ Mehr sagte er nicht, mehr musste er nicht sagen, denn das Mädchen war weg. Seltsam, dachte er und ging weiter. Sie ging, sie lief, sie rannte. Roter Schal. Farben. Böse Farben. Sie erinnerte sich schemenhaft. Sie war noch klein. Ihre Mutter fuhr mit ihr nach Hause und dann passierte es. Ein lauter Knall und sie sah Lichter. Bunte Lichter. Farben. Böse Farben. Sie war sich sicher: Die Farben waren schuld. Die Farben haben ihre Mami weggenommen Farben. Böse Farben. Am nächsten Tag nahm er denselben Weg. Er wollte sie wiedersehen, das Mädchen mit den silbergrauen Augen. Er wollte sie fragen, was sie hatte. Er wollte sie um Verzeihung bitten, denn er glaubte, dass sie seinetwegen traurig war. Er wollte. Es dauerte nicht lang bis er dem Mädchen zum zweiten Mal begegnete. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung sprang sie von der Mauer runter. Auf seine Seite, dieses Mal. „Schöner Schal", sie zögerte kurz, "Ich mag seine auffällige Farbe." Er lachte und erwiderte: „Danke. Ich finde die Farbe schrecklich und ich glaube sie passt auch gar nicht zu mir.“ In der Hoffnung auf einen hilfreichen Rat wartete er auf ihre Antwort. „Das weiß ich nicht.“, sagte sie, „Ich bin seit meiner Kindheit farbenblind, für mich ist die ganze Welt grau.“ Er wunderte sich über ihre Antwort, aber traute sich nicht weiter nachzufragen. Er zog seinen Schal aus und wickelte ihm dem Mädchen um den Hals. „Hier, bitte. Ich schenke dir den Schal.“ Mit einem Lächeln im Gesicht, und ohne auf eine Antwort zu warten, ging er davon. Sie war weg. Ein Tag später war er wieder an derselben Stelle und schaute zu der Mauer rauf, auf der das Mädchen die letzten zwei Tage lang gelaufen war. Er sah sich um und erblickte einen roten Schal, der sich in eine der Baumkronen verfangen hatte. Ein knallroter Schal.
______________________ Looking awesome feeling helpless
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