Hallo Blackened,
am Anfang gibts Haue. Ich hab angefangen, die Geschichte zu lesen, und hab mich geärgert. Nicht über den Titel, den fand ich gut - schön bunt! Aber der erste Satz...! Kannste mir mal sagen, was Du Dir dabei gedacht hast? Nix? Dacht ich mir... Ich zitiere: "Er hatte sich dabei ertappt, ihr länger als nötig in die Augen zu sehen". Hallo?! Tempus, anyone?! San in Tralalahausen die Türen ausg'hengt, dass jetzt ois geht und goarnix mehr güüt, oder was?
Schreiben wir das mal ein bisschen um: "Er
hatte [passt eh!] sich dabei ertappt, ihr länger als nötig in die Augen
gesehen zu haben". Ja hey, klingt ja plötzlich nach Deutsch, ein Wahnsinn!
Den Rest mit den Iriden fand ich übrigens gut, mir gehts nur um den Beginn.
Das war natürlich ärgerlich, weil es gleich der erste Satz war und man danach wieder neu in die Geschichte einsteigen musste. Aber das Tolle an der Geschichte ist, dass es eben das einzige wirkliche Ärgernis war. Anschließend gings ja auch gleich wieder aufwärts! Guter zweiter Satz und dann gleich mal die (implizite) Nennung eines erfreulichen Themas.
So, als nächstes gibt es einen Einblick in die Arbeitsweise des angesehenen Literaturkritikers Reich-Patenski: Ich mache mir Smileys an den Rand, wenn mir eine spezifische Formulierung oder ein Bild ausnehmend gut gefällt. "Pistazie" hat trotz der Kürze deutlich die meisten Smileys! Hier hat einfach eine Userin geschrieben, die schöne Formulierungen am laufenden Band raushauen kann - und da hatte ich dann auch schon den richtigen Verdacht, denn Du hast ja beim letzten Wettbewerb diesbezüglich schon sehr überzeugt.
Manchmal sind es ungewöhnliche Bilder ("der sogar von der Fadheit des Kichererbsenablaufs ablenken konnte"), ganz oft sind es Sätze, die für sich genommen überhaupt keine sprachlichen Besonderheiten aufweisen, sich aber einfach perfekt an Ort und Stelle einfügen: "Er verwarf den Plan aber sofort wieder", nachdem gerade ein nicht allzu kühner Plan gefasst wurde. Der Verkäufer, "der quasi nur aus einem monströsen Schnurrbart" besteht. Oder die rhetorische Frage, warum sie überhaupt geweint hatte; "[e]r wäre nie fremdgegangen." Oder: "Ruhe stand ihr. Der billige Kimono [...] weniger." Auch die Idee mit den Eissorten und dem Pistazieneis-Typ war natürlich schön. Und so fort! Da wurde sprachlich einfach sehr viel sehr richtig gemacht - und deshalb ist diese Geschichte bei mir sehr weit oben (für die, die es im Thread überlesen haben: Platz 2).
Zwei scheinbar ganz einfache und belanglose Stellen möchte ich an dieser Stelle gesondert hervorheben. Zum einen der folgende Satz: "Die plötzliche Ruhe kam ihm vor wie ein Geschenk." Warum liest sich das so schön und leicht, wie es sich liest? Weil die Satzstellung toll ist, ich würde sie als organisch bezeichnen. Hier steht nicht, wie man den Satz vielleicht im Grammatik-Unterricht stupide aufgebaut hätte: "Die plötzliche Ruhe kam ihm wie ein Geschenk vor." Stattdessen wird der Satz umgestellt, die beiden Bestandteile des Prädikats stehen näher beeinander, der Satz klingt dadurch flüssiger und der Vergleich "wie ein Geschenk" steht in exponierter Stellung am Satzende. Setzen, Note 1! Und wenn solche Formulierungen "unabsichtlich" sind: umso schöner! Denn einfach so darauf losformulieren zu können, das ist eine sehr schöne Gabe. Aber wenn man dann im Nachhinein noch über seine Sprachverwendung reflektiert, trägt man vielleicht dazu bei, dass "Zufallstreffer" nicht plötzlich wieder verschwinden.
Die zweite Stelle, die ich Hervorheben möchte, ist die mit den Leuten bzw. "mit denen", denn in der Geschichte werden die Leute auch nicht explizit genannt, was sehr schön ist; also die Stelle mit denen, "die abends auf den
belebteren Plätzen der Stadt" sitzen und dort Bilder malen. Diese "Standardabweichung" in der Formulierung ("
belebteren Plätzen" statt "belebten Plätzen") passt als Beispiel in jede Poetik-Vorlesung!
Die Formulierung ist zum einen ungewöhnlich, da in der Otto-Normal-Geschichte eben von "belebten Plätzen" die Rede gewesen wäre. Außerdem ist die Formulierung freier, sie ist weniger festgelegt und lässt dadurch Raum für Gedanken: Handelt es sich vielleicht um eine verträumte Kleinstadt, in der auch die belebteren Plätze doch relativ unbelebt sind? Ab wie vielen Personen ist ein Platz überhaupt belebter als ein anderer, wie viele Personen sind denn dort und warum überhaupt? Der Leser steht bei einer solchen Formulierung plötzlich mitten auf dem Platz und bekommt viel mehr assoziativen Input, als bei einer gewöhnlichen Standardphrase. Man kann diese Formulierung meiner Meinung nach gar nicht genug loben, ich freue mich wirklich sehr darüber! (So sehr, dass mir das "machten klar" im selben Satz, das tatsächlich nicht sonderlich berühmt ist, gar nicht negativ aufgefallen ist.)
Der Schriftsteller Daniel Scholten hat über gelungene Sprachverwendung in Erzählungen einmal sinngemäß gesagt: "Die Sprache muss so klingen, als sei sie gerade erst erfunden worden." Und genau das ist hier an vielen Stellen der Fall und hat mich sehr gefreut!
Inhaltlich ist die Geschichte darüberhinaus ein Beispiel dafür, wie man
gelungen Sachen weglassen, aussparen oder verschweigen kann. Der Leser erfährt hier nicht sehr viel über die Personen beziehungsweise im Speziellen über den Mann; es werden nur schlaglichtartige Ausrisse aus seiner Erinnerung geboten. Dadurch kann sich der Leser den Rest selbst ausmahlen, kann seiner Phantasie freien Lauf lassen und die Geschichte in Gedanken weiterschreiben. Dies funktioniert aber nur - und das ist das Entscheidene und Elementare! -, weil die grundsätzlichen "Koordinaten" der Geschichte (Mann schläft mit Frau. Mann sitzt auf Balkon, redet mit Frau und denkt über seine eigene Vergangenheit nach. Mann macht Frau Komplimente und nimmt sich vor, nochmal Sex zu haben.) zu jederzeit klar sind! Da ist ein klarer Rahmen abgesteckt, eine "Personenkonstellation" - und den Rest kann der Leser sich selber zusammenphantasieren. Und wichtig: Er kann es auch lassen, wenn er keine Lust hat, und hat dennoch eine Geschichte mit nachvollziehbarer Handlung.
Letztlich wurde es bei mir Platz 2, da mir der thematische Verlauf von Leprechauns Geschichte (eigene Kritik hierzu folgt demnächst) einfach ausnehmend gut gefallen hat - und auch, da ich den Tempus-Unsinn im ersten Satz einfach nicht unberücksichtigt lassen konnte, das war wirklich störend für mich. Aber es ist ein sehr guter Platz 2 - übrigens auch mit einigem Abstand zu Platz 3; die ersten beiden Plätze waren mir nach dem Lesen sofort klar, während es dahinter eng zuging.