Sie sei deinSie rannten durchs Geäst, immer weiter.
Hier gab es bereits seit Stunden keine Wege, nichtmal einen Pfad oder etwas Vergleichbares. Blätter wischten ihnen übers Gesicht und Äste zurrten an ihren Kleidern, ein Baum nach dem anderen zog an ihnen vorbei, bis das Dickicht erstmals seit die beiden den Wald betreten hatten wieder nachließ. Durch die Zweige vor ihnen brach Schritt für Schritt wieder die Sonne durch. Eine Lichtung.
Endlich. Yurie und Rihito hielten inne und atmen die Waldluft ein. Es war still, bis auf das Rascheln der Blätter und ein paar Vögel, von denen nichts zu sehen war, nur zu hören. Das Paar schaute sich in die Augen und beide lächelten. Rihito nahm sein langes, besticktes Gewand ab und legte es in das Gras, woraufhin sich beide darauf niederließen und ihre müden Füße ausstreckten.
Niemand hatte bemerkt wie die beiden das Haus verlassen hatten, und das Dorf lag Stunden hinter ihnen. So gesehen hatten sie es geschafft, und die nächste Siedlung sollte nur noch wenige Stunden entfernt sein. Rihito, der reiche Sohn eines Shoguns, und seine Dienerin und heimliche Geliebte Yurie - Geschichten dieser Art gab es immer wieder, nichts was der Shogun seinem Sohn nicht hätte austreiben können indem er ihn zum Drill zu einem seiner Samurai geschickt oder indem er Yurie einfach des Hauses entwiesen hätte, aber das waren alles Probleme die jetzt hinter ihnen lagen.
„Lass uns ein neues Leben anfangen“ hatte Rihito ihr zugeflüstert, und noch in derselben Nacht waren sie durchgebrannt, in den Wald den sie auch bisher immer für stille Stunden aufgesucht hatten, nur viel weiter, in Richtung der Siedlungen, aus denen manchmal Händler und Reisende zu ihnen kamen.
Im Wald gab es keine Wölfe oder dergleichen, dennoch nahmen Reisende meist andere Wege, weil hier alles sehr dicht stand, wovon auch die Blätter zeugten, die die beiden in den Haaren und auf den Kleidern hatten. Aber das war ihnen gleich. Rihito wischte durch Yuries schulterlanges Haar und sah sich auf der Lichtung um. Sehr groß war sie nicht, aber man würde im Notfall dort eine Nacht verbringen können. Während Rihito so nachdachte, packte Yurie ihn an den Schultern und schwang sich auf seinen Schoß. „Überaus gemütlich hier.“ Die beiden grinsten sich an und küssten sich innig.
.Yurie wachte als erstes auf. Trotz der langsam aufziehenden Wolken war es noch nicht dunkel und noch immer warm. Sie zog ihre Kleider wieder an und wollte sich an den Rand der Lichtung zurückziehen um sich frisch zu machen, als sie zwischen den umkreisenden Bäume einen mehrstöckigen, altmodisch, aber nicht verfallen, wirkenden Tempel bemerkte. Inmitten des Waldes, sicherlich 50 Meter hoch, vollständig aus Holz gemacht. Wo kam der auf einmal her? Oder hatten sie ihn vorhin übersehen? Unauffällig war er nicht. Yurie ging los um Rihito zu wecken.
„Sicherlich war er vorhin noch von Ästen verdeckt. Außerdem hat der Anblick meiner Schönheit dich vermutlich geblendet“, meinte der. Yurie boxte ihn dafür einmal in die Seite. „Meinst du der Tempel steht leer?“
„Vielleicht wohnt hier ein Eremit. Oder Mönche. Oder ein Menschenfresser. “, sagte Rihito und ging mit Yurie wieder zum Turm. „Aber vermutlich war hier einfach irgendwann ein Adelshaus oder ein Orden, als der Wald noch nicht so dicht war.“
In die breite, zweiflüglige Holztür waren Worte eingeschlagen. Yurie las vor, ihre Stimme war betörend.
„
Der Vagabund durchstreift das Land, über Kluft, Mauer, Tal; ganz der Suche anheim nach dem Verlust aller Macht. Das tote Herz kalt wie Eisen, zermahlen zu Sand, doch geschliffen durch Reisen sein scharfer Verstand. Sie sei endlos, die Qual, die Wahl war nie sein, schon seit ewiger Nacht streift er allein auf der Suche nach dem Herrn am Eingang der Mühle, dem Veteran, dem Herren von ewiger Kühle. Ihn zu finden ist des Vagabunden endlose Quest, wenn getan er den Tand, bleibt ein einziger Rest, fester Stand, Mann von Stahl, keine Hast, ruhige Hand
-Bitte nimm mir die Kraft! Sie sei dein!-
schallts durchs Land.“
„Das reimt sich“, stellte sie fest.
In dem Moment fing es an zu regnen. Die Tropfen waren erfrischend und leicht, als sie an den Gesichtern der beiden herabliefen. Sie genossen einige Minuten den Regen und küssten sich wieder, bis dieser langsam stärker wurde.
„Es regnet“, stellte diesmal Rihito fest.
„Was du nicht sagst.“ „Nein, ich meinte, wollen wir nicht für heute Unterschlupf im Tempel suchen?“
Wie zur Bekräftigung fing es nun an zu donnern – und zu hageln. All das innerhalb weniger Minuten, fast ungewöhnlich für diese Jahreszeit, und auch für diese Gegend Japans. Yurie klopfte an die Tore an und drückte sie auf.
.Das Innere des Tempels wirkte alt, aber nicht ansatzweise verfallen. Im untersten Stock schien sich so etwas wie ein Speisesaal zu befinden; vor sich sahen sie einen langen Tisch auf dem noch einige Kerzen standen. Von draußen schien nur noch mattes Licht durch kleine Lücken im Holz herein und der Hagel schlug von außen gegen die Wände. Es sah nicht ungemütlich aus. An der Wand war ein Kamin, und darüber hing ein Bild einer bildhübschen Edelfrau im Kimono. Also doch eher ein Herrschaftssitz als ein Orden; es sei denn, den hiesigen Mönchen war mehr gestattet als denen im Heimatdorf. Rihito setzte sich an den Tisch und packte den Wegproviant aus, den sie aus der Küche mitgenommen hatten bevor sie gingen. Die beiden aßen ein wenig und zogen dann los um sich im Gebäude umzuschauen.
Im Stock über dem Eingangsbereich befand sich ein großer Schlafraum, aber die Treppe in den nächsten Stock war komplett durchgebrochen, also gingen sie in den Keller. Dort lagen einige frisch wirkende Holzscheite in einer Ecke, und ein kleiner, länglicher Erdhügel war in einer anderen aufgehäuft. An der Wand über dem Hügel war eine Plakette befestigt auf der kunstvoll ein Schlüsselloch aufgemalt war. Eine Grabstatt. Yurie und Rihito falteten die Hände, verbeugten sich und hielten kurz inne.
Als sie wieder in den Speisesaal gingen schien von draußen bereits kein Licht mehr hinein, aber das Unwetter war noch immer gut zu hören. „Lass uns für heute schlafen gehen.“, meinte Yurie.
In den Betten im Schlafraum war es bequem und sie schliefen schnell ein. In den letzten Stunden war viel Anstrengendes passiert; ihre Flucht aus Rihitos Herrenhaus lag jetzt einen Tag zurück. Sein Vater hätte die Romanze nie geduldet, hätte er sie entdeckt. Wozu einen die Liebe nicht trieb… den Schlaf hatten sich beide verdient.
Irgendwann nachts glaubte Rihito das Schlagen einer Tür zu hören und wachte davon auf.
.War das das Miauen von Katzen, was von unten durch den Boden drang? Katzenschreie, unzählige, nur leise wahrnehmbar, aber durchdringender als die eines Kindes… gequält. Und dann war alles wieder still. Absolut still; selbst vom Gewitter war nichts mehr zu hören, wie Rihito bemerkte. Er überlegte sich ob er Yurie wecken sollte, aber entschied sich dagegen. Er war schlaftrunken, und da er lieber weiterschlafen wollte, drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen.
Bis kurz darauf plötzlich im Zimmer etwas raschelte. Er riss die Augen auf und direkt vor seinem Gesicht saß eine Ratte. Fett und verfilzt, mit blinden Augen. Sie sah uralt aus und stank. Rihito schrie auf und schlug nach ihr; sie verschwand hastig unter dem Bett. Durch den Lärm war Yurie aufgewacht.
„Wir haben eine Ratte im Zimmer. Aber das Gewitter hat aufgehört und es müsste bald hell werden, ich würde vorschlagen wir gehen nach unten und ziehen bald wieder weiter.“ Er atmete schnell.
„Eine Ratte?“ Yurie sah angeekelt aus. Sie standen auf und gingen nach unten, beide waren noch müde. Der Speisesaal sah noch genauso aus wie zuvor, keine Spur von Ratten. Oder Katzen. Rihito entschied sich, nichts dazu anzumerken; in alten Häusern hörte man nunmal Geräusche.
Yurie rüttelte an der Tür nach draußen. „Sie ist verschlossen.“
Rihito versuchte ebenfalls an der Tür zu rütteln. Sie knarzte, aber sie ging nicht mehr auf. Er sah sich im Raum um. An der Decke hing ein goldener Käfig, wie der eines Vogels, nur um einiges größer. Wozu sollte so etwas gut sein? Das Gemälde an der Wand glotzte derweil unbeteiligt durch den Raum. Keine Fenster… auch im Schlafraum waren keine gewesen, und der Keller hatte keinen zweiten Ausgang gehabt. Yurie sah sich panisch um - er wollte sie gerade mitnehmen um im Schlafraum nochmal zu versuchen, in den Stock darüber zu gelangen, als Schritte zu hören waren, die die Kellertreppe hochkamen. Leise, menschliche Schritte. Es war keine Zeit mehr für Reaktionen, beide standen wie angewurzelt da, und plötzlich stand eine Frau in der Tür. Sie sah jung aus, hatte kreidebleiche Haut, offenes Haar dass ihr fast bis zur Hüfte reichte und trug einen roten Yukuta. Es war die Frau aus dem Gemälde, die die Besucher nun durchdringend anstarrte.
„Unsere Namen sind Rihito und Yurie. Draußen herrschte Gewitter, und wir haben in diesem Haus Schutz gesucht. Wir dachten es wäre leerstehend.“ Rihito und Yurie verbeugten sich nervös.
Die Frau verbeugte sich nicht. Sie starrte Rihito direkt in die Augen und fragte „Findest du mich schön?“
Dieser sah kurz zu Yurie und schluckte. „Ja..?“
Die Frau musterte ihn weiter durchdringend. Sie trat mit starren Schritten an Rihito heran und wies mit einer Hand zum Tisch. „Setzt euch.“ Sie verbeugte sich.
„Mein Name ist Hanako.“
.„…und wofür steht denn das Gedicht, das sich an der Eingangstür befindet?“ Sie saßen am Tisch; Yurie versuchte Konversation zu betreiben, und subtil das Thema auf die verschlossene Tür zu lenken.
„Es geht noch weiter.“ Hanakos Stimme klang jung und monoton. „
Doch noch immer streift Vagabund durch Berg, Morast, Weidegrund. Auf der Suche nach dem Mentor den niemand kennt und beim Namen nennt, erzählt wird nur wie sein ewiges Feuer brennt…“
Der Text an der Tür ist die erste Strophe von vielen. Ich bin nicht sicher ob ich noch alle kenne. Es handelt von jemandem der vor einiger Zeit in diesem Haus gewohnt hat und auf eine Reise ging. Er mochte es hier nicht, fühlte sich eingesperrt. Einen goldenen Käfig nannte er es.“
Rihito zuckte und blickte an die Decke. Hanako blickte wie durch ihn hindurch. „Ihr seid jetzt müde.“
.…
Rihito hatte geschlafen. Als er aufwachte war es stockfinster. Er saß noch immer am Tisch, und neben ihm saß noch immer Yurie, er fühlte ihre Hand. Sie wachte auch soeben auf. Es stank bestialisch. Was war passiert, wieso waren sie eingeschlafen? Und wann? Er wagte es nicht sich zu rühren und blickte sich stumm um. Yurie war ebenfalls leise. Nach etwas was sich anfühlte wie eine ewig lange Zeit begannen sich Rihitos Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Gegenüber von ihnen saß jemand, das musste immer noch Hanako sein… aber rings um den langen Tisch, überall saßen Menschen, viele Menschen, und es stank.
Der Tisch schien gedeckt mit Tellern und Platten, irgendetwas war darauf serviert. Die Gestalt ihnen gegenüber erhob sich und lief zum Kamin; Rihito und Yurie folgten ihr mit den Augen. Es war eindeutig Hanako, ihre ruckelnde Art zu gehen war gut erkennbar. Sie kniete sich vor das Feuer, und kurz darauf sah man wie eine kleine Flamme sich entzündete die schnell größer wurde. „Es ist gedeckt.“ Hanako stand wieder auf und setzte sich zurück an ihren Platz gegenüber des Paares, das entgeistert den Tisch hinauf und hinunter blickte.
Überall am Tisch saßen Leichen. Gegenüber ihnen, neben ihnen. Starr, mit toten weißen Augen, am Anfang der Verwesung. Auf den Platten lagen Ratten und Katzen, und auf dem Teller direkt vor Rihito lag das fette alte Monster aus dem Schlafzimmer auf dem Rücken und zuckte; daneben ein Becher voll Blut.
Hanako lächelte die beiden an. Rihito sprang vom Stuhl auf, dieser fiel krachend um. „Bei den Göttern! Was ist das? Was ist das?“ Er fasste sich an die Hüfte, aber er führte kein Schwert mit sich. Er besaß ein eigenes, aber das hing an der Wand des Dojos zuhause… er war kein Samurai, er hatte sich immer mehr für das Schreiben interessiert als für den Kampf. „Bitte. Esst.“ Hanako legte die Hände auf den Tisch. Sie hatte extrem lange und spitze, schwarz gelackte Fingernägel. Yurie saß wie festgeklebt auf ihrem Stuhl. Sie schrie hysterisch. „Lass uns hier raus! Was für eine Art von Yokai bist du?“ Tränen standen in ihren Augen.
Hanako zog ein Messer, es sah aus wie ein abgebrochenes Katana, aus ihrem Ärmel, beugte sich über den Tisch und hielt Yuries Gesicht fest. Sie steckte das Messer in Yuries Mund und schlitzte ihr die Wangen zu einem grotesken, lachenden Fratze auf. „Bitte nicht weinen. Bitte nicht weinen.“ Mit diesen Worten lehnte sich Hanako wieder zurück. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert. Rihito fiel vor Schreck zu Boden; Yurie schrie, ihr lief das Blut den Hals herunter. Sie hielt ihre Hände an ihre Wangen, zuckte vor Schmerz zurück, und weinte ob des Anblicks ihrer blutigen Hände noch mehr.
Hanako legte ihr Messer auf den Tisch vor sich und blickte zu Rihito. Sie sprach sehr ernst und bestimmt, dennoch freundlich. „Bitte. Esst.“
Rihito stand langsam auf und nahm mit zitternden Händen die blinde, zuckende Ratte. Er starrte sie an.
.Yurie lag im Bett und zitterte. Rihito hatte ein Stück aus der Ratte gebissen und sich erbrochen, was Hanako anscheinend nicht weiter gestört hatte. Dann hatte er Yurie hochgehoben, sie nach oben getragen und ihr Gesicht mit einem Stück aus seinem Gewand verbunden. Yurie sah grässlich aus und Rihito hatte Angst, blanke Panik. Diese Frau war ein Dämon, sie war kein Mensch. Sie saß wohl noch immer unten im Speisesaal bei den Leichen. Rihito blieb bei Yurie bis sie aufhörte zu zittern. Entweder war sie eingeschlafen oder ohnmächtig, jedenfalls war beides besser für sie als wach zu bleiben.
Der schweißnasse Sohn eines Shoguns ging zur durchgebrochenen Treppe nach oben und zog sich hoch in den nächsten Stock. Es war dunkel, aber er konnte erkennen, dass es hier aussah wie in einem Dojo. Glatter Holzboden, an der Wand hingen Bokutos, Übungsschwerter aus Holz. Er nahm eines ab und lief im Kreis. Wieviele Stockwerke hatte dieser Tum noch? Er wollte sich nicht zu weit von Yurie entfernen. Trotzdem steckte er den Kopf in den nächsten Stock. Ein Raum zur Meditation. Hatte hier eine Adelsfamilie gewohnt? In diesem von allem abgeschiedenen Turm schien sich alles zu befinden was ein zivilisierter Mensch zum Leben brauchte. Auf einer Art Altar an der Wand lagen einige Schriftrollen, Kerzen brannten.
Hatte Rihito da ein Knarzen von unten gehört? Er wollte sich nicht vorstellen was Hanako gerade tat. Eigentlich sollte er zu Yurie zurück, aber er entfaltete eine der Schriftrollen – Darauf zu sehen war ein kunstvolles Bild einer Mühle, darunter der Schriftzug „Krepieren“. In einer anderen Schriftrolle stand der Schriftzug „Töte den Vogel, wenn er nicht singt“.
Mit leerem Blick kehrte Rihito ins Schlafzimmer zurück. Er saß aufrecht neben Yurie bis sie wach wurde.
.„Wie geht es dir?“
„Mein Gesicht tut weh.“
Sie hatte Galgenhumor, obwohl sie extrem viel Blut verloren hatte. Sie sah blass und krank aus. War es bereits wieder Tag? Rihito war hungrig und durstig, Yurie musste es ähnlich gehen. Sie mussten aus diesem Turm raus, und das schnell. „Ich werde unten nachsehen.“ Rihito nahm das Holzschwert und stieg die Treppen nach unten.
Keine Hanako, keine Leichen. Alles war wieder wie beim Betreten des Turmes, warmes Licht scheinte durch das Holz. Während Rihito sich umsah wischte eine fette Ratte zwischen seinen Füßen durch und verschwand im Keller. Yurie kam langsam die Treppen herunter, und er vermied es ihr ins Gesicht zu sehen. Er schaute stattdessen angewidert Hanakos Abbild an der Wand an. Wo war sie?
Die Tür war nach wie vor verschlossen.
Gestern Nacht hatte er sie aber zuknallen gehört, und später hatten sie beobachtet wie Hanako aus dem Keller kam. Rihito hob das Schwert vor sich und ging in den Keller, Yurie folgte ihm. Auch dort sah alles aus wie gestern, der Hügel, die Holzscheite, auch wenn ein wenig Holz zu fehlen schien. Die beiden betrachteten nochmals das Bild des Schlüssellochs über dem Grab; es war glatt poliert und spiegelte. Als Yurie ihr Gesicht darin sah, wurde sie blass und ihr Blick wurde leer.
„Töte den Vogel, wenn er nicht singt.“
Irgendjemand im Raum hatte gesprochen. Rihito drehte sich hektisch um sich selbst, das Holzschwert im Anschlag, während Yurie langsam ihre Hände zu ihrem Hals führte und begann sich zu würgen. Sie lief blau an, Rihito schrie „was tust du da?“, warf das Schwert hin und versuchte ihre Hände von ihrem Hals zu zerren. Während er mit ihr rang, spürte er ihr Herz immer schneller schlagen. In ihren Augen platzten die Äderchen, während sie nicht nicht daran hindern lies, immer weiter zuzudrücken, bis zwischen ihren Fingern Blut durchlief und sie aufhörte sich zu bewegen. Sie war tot. Rihito brach zusammen und weinte.
Als er wieder zu Bewusstsein kam, war Yurie weg und da wo der Erdhaufen war befand sich nun ein offenes Grab.
Rihito wusste was jetzt kam. Es war wieder Essenszeit.
.Als er den Speisesaal betrat schlug ihm wieder dieser abnorme Gestank entgegen. Der Tisch war bereits gedeckt und das Feuer entfacht. Hanako saß auf ihrem Platz, der Tisch war umringt von den ausdruckslosen Leichen. Rihitos und Yuries Plätze waren frei. Rihito setzte sich an seinen Platz und starrte Hanako mit Tränen in den Augen an. Er schluckte und sprach jedes Wort langsam und mit höchster Beherrschung aus.
„Wo ist Yurie?“
Hanako lächelte.
Den Vogel. Töte den Vogel. In der Peripherie seiner Augen sah Rihito wie der goldene Käfig an der Decke hin und her schaukelte. Er drehte den Kopf nach oben. Auf der Stange des Vogelkäfigs hockte Yurie. Das Bild das sich darbot war grotesk. Sie saß starr da oben wie eine Zierpuppe, ihre Augen waren weiß.
Er schaute wieder zu Hanako und versuchte abermals sich zu beherrschen.
„Lässt du mich bitte aus diesem Turm raus?“
Sie überlegte. „Was bekomme ich denn dafür?“
Vor ihm auf dem Teller lag die Ratte von gestern, aus deren Seite er ein Stück Fleisch gerissen hatte. „Ich werde mit dir essen.“
Hanako lächelte wieder sanftmütig. Über ihnen schaukelte der Käfig, was Rihito krampfhaft zu ignorieren versuchte. „Für dich gibt es nur einen Weg hier raus in deine Freiheit. Morgen werde ich ihn dir zeigen. Ob du ihn nimmst, ist deine Wahl.“ Sie hob ihren Becher. Rihito hob den seinen.
.Nach der Mahlzeit erhob sich Hanako und ging in den Keller. Rihito war einen Moment versucht ihr zu folgen und sein Holzschwert in den Erdhügel zu rammen, aber er spürte die Blicke des Gemäldes im Nacken. Alleine im Speisesaal mit dem immer noch schaukelnden Käfig bekam er Panikattacken, also begab er sich nach oben in den Schlafraum. Angekommen fiel er fast rückwärts die Treppe herunter, denn in der Ecke stand Yurie. Regungslos, bleich, mit aufgeschlitzten Gesicht. Ihre Augen waren leer, sie stand einfach nur da, wie eine Puppe. Gerade eben war sie doch noch Im Käfig gewesen.
„Lebst du noch?“ Er schrie sie an. „Lebst du noch?“
Nichts passierte.
Er schluchzte. „Lebst du noch, oder nicht…?“ Ganz nah trat er an sie heran und strich durch ihr Haar. Sie stand starr da. Hatte er Angst vor ihr? Das wusste er selbst nicht. Er setzte sich auf das Bett und erzählte ihr Geschichten darüber, wie es jenseits des Waldes war. Dort lebten die Menschen scheinbar ganz anders, schlichter. „…ich suche mir dort eine einfache Arbeit, und wir suchen uns ein nettes Haus in dem man ein, zwei Kinder aufziehen kann… Vielleicht schreibe ich an meinen Geschichten weiter.“ Er fing an zu weinen. „Vielleicht möchtest du ja weiter… Kleider besticken…“
Rihito stand auf und ging an Yurie vorbei, wieder zog er sich in das nächste Stockwerk.
„Ich sehe mich mal hier um, pass bitte auf die Ratten auf…“
Er ging durch den Trainingsraum, durch den Meditationsraum, durch ein Zimmer mit vielen Büchern, kam in einer Art Schrein an und fiel kraftlos zu Boden. An der Wand hing ein sehr langer Text, verblichen, ganz am Schluss waren ein paar Worte zu entziffern:
„
-Ich bin schwach, ich bin schwach!-
Und schlief ein.“
Rihito musste lächeln. Der Vagabund. Anscheinend hatte er doch noch gefunden, was er gesucht hatte, auch wenn die Umstände seiner Reise nicht mehr lesbar waren. Ganz unten stand eine Unterschrift. Baku Hanako.
Baku Hanako. Rihito war in den letzten… wie lange war es her? Zwei Tage, Drei Tage… Wie oft war er jetzt an einem gänzlichen anderen Ort aufgewacht als jeder Ort, an den er jemals hingehört hatte?
Das erste was er diesmal nach dem Aufwachen sah, war Baku Hanako. Hatte er einen ganzen Tag geschlafen? Sie stand lächelnd über ihm und hatte eine Hand mit den langen Krallen ausgestreckt um ihm hochzuhelfen. Er nahm sie widerwillig und folgte ihr; sie ging die letzten Stockwerke hinauf, Rihito sah sich nicht um, er beobachtete stattdessen nur wie Hanakos lange Haare sich beim Laufen hin und her bewegten. Das oberste Stockwerk war eine Art staubiger, knarziger Dachboden, in dessen Mitte sich nichts als eine Leiter befand, darüber eine geschlossene Klappe. Hanako stieg herauf, zog einen Schlüssel aus ihrem Gewand und öffnete die Klappe. Frische Luft zog herein.
.Rihito kletterte hinterher und zog sich auf das flache Dach des Turmes. Hanako beobachtete ihn stumm. In einer Ecke des Daches stand Yurie, die makabre Statue. Ihre Haare wehten im Wind. Vor ihnen lag die Lichtung, es war dunkel und kühl. Hanako flüsterte.
„Du hast jetzt den Turm verlassen. Die Weiterreise steht dir frei.“
Rihito sah nach unten. 50 Meter, mindestens. Der Wind zerrte ihm leicht an den Kleidern. Der Boden war schlecht zu erkennen in der Dunkelheit.
„Rihito?
Ich liebe dich.“
Er drehte sich zu Hanako um. Sie lächelte. „Nicht weinen.“ Mit diesen Worten zog sie ihr abgebrochenes Schwert aus ihrem tiefen Ärmel, steckte es sich in den Mund und schlitzte sich die Wangen auf, ebenso wie sie es bei Yurie getan hatte. Yurie, die regunglos in der Ecke stand.
„Findest du mich schön? Auch jetzt noch?“
Da trat Rihito über die Kante des Turms und fiel. Seine Gedanken waren in diesen paar Sekunden frei von Leid. Er war glücklich, während der Boden näherkam, langsam, die Sekunden wurden zu Minuten und Stunden und die Luft wischte alle seine Tränen weg. Diese eine Geschichte die er begonnen hatte, den Tag bevor er mit Yurie durchgebrannt war…
…dann prallte er auf, und die Knochen in seinen Beinen zersplitterten, ebenso wie einige Rippen. Er blutete und hyperventilierte. Im Wald, da stand seine tote Geliebte und blickte mit leeren Augen in seine Richtung. Die Spitze des Turms aber war leer. Abendbrot?
Baku Hanako.
Rihito schleppte sich mühsam seinen Weg vorwärts, zog sich mit den Armen Stück für Stück, immer weiter, und atmete schwer.
Als er an den Toren des Tempels angekommen war, stieß er sie auf und kroch hinein. Hinter ihm fiel die Tür krachend ins Schloss.