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Weiblich 
BeitragVerfasst: Di 7. Mai 2013, 17:43 
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elchatem
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Mittwochs-Melancholie.


An diesem einen Mittwoch kam dem Vogel der Gedanke, dass es mehr geben könnte, als den Käfig. Er putzte rasch noch einmal sein Gefieder um sich zu vergewissern, ob es wirklich nur dieser Gedanke war, der ihn juckte. Nach einmal Schütteln und zweimal Aufplustern war er sich schließlich sicher; es gab mehr als den Käfig. Da draußen.

An diesem Mittwoch las ein ängstlicher Knabe in einem Buch, das unbedingt verstanden werden wollte. Hilflos und heillos überfordert focht er mit jedem einzelnen Buchstaben, Wort und Satz. Der ängstliche Knabe kämpfte mit den Tränen und für kurze Zeit blickte er auf, das Buch ergriff die Chance und zerschlug die kläglichen Abwehrversuche des Knaben mit einem Umblättern der Seiten.

An genau diesem Mittwoch fiel ein an einen in der Innenstadt stehenden Laternenpfahl gelehntes Fahrrad nach links in ein Beet um. Der Gärtner ärgerte sich sehr, denn am frühen Morgen erst hatte er das Beet neu bepflanzt. Verärgert ging er nach davon, um neue Setzlinge zu holen.

Die Frau betrat den Raum mit dem Körnerfutter lockend, doch der Vogel hüpfte nicht wie üblich an die Wände des Käfigs, sondern blieb auf dem Trapez sitzen und drehte nur den Kopf in ihre Richtung. Verwundert über ihre Existenz schaute er sie ganz genau an. Bisher hatte er immer nur ihre Hände, ihre fütternden Hände, beachtet. Nun sah er, dass die Frau sehr alt war, älter als jeder Vogel jemals werden könnte. Und trotzdem war sie noch hier. Er wunderte sich.

Der Gärtner trug die Setzlinge in einer Holzkiste durch die Straßen der Stadt. Trübsinnig starrte er dabei auf seine Füße. Tagein, tagaus dieselbe Arbeit. Unkraut jäten, Beete bepflanzen, Blumen gießen. Er hasste diesen sich ständig wiederholenden Ablauf der Dinge. Nie passierte etwas. Nie.

Der ängstliche Knabe mit dem Buch, das verstanden werden wollte, in den Händen, hatte es an diesem Mittwochnachmittag nicht eilig wie sonst. Er versuchte sogar, seine Heimkehr durch zwei-Schritte-vor-und-einen-zurück hinauszuzögern. Trotzdem erreichte er viel zu schnell die heimatliche Gasse. Ein Mann kam ihm entgegen, schon von weitem konnte er erkennen, dass dieser Pflanzensetzlinge trug. Der Mann blickte nicht auf und lief geradewegs weiter, in den ängstlichen Knaben hinein.

Von dem Geräusch erschrocken, das die auf den Boden fallende Holzkiste verursachte, kam die Frau mit dem Käfig in der Hand ans Fenster. Was sie sah, allerdings erst beim zweiten Blick hinunter auf die Straße, war ein Knäuel aus Setzlingen, Holz und zwei Menschen. Einer der beiden, es war der verärgerte Gärtner, hatte die Setzlinge fallen lassen, der Andere, es war offensichtlich der ängstliche Knabe, das Buch. Der Vogel wusste, dass dieses Buch verstanden werden wollte.

Die Frau drehte sich vom Fenster weg und stellte den Käfig auf den Tisch. Der ängstliche Knabe schluckte die Tränen hinunter. Der verärgerte Gärtner hustete.

Eilig sammelte der Gärtner die Setzlinge auf und
hustete wieder,
und
wieder und
wieder.
Verdammter
Raucherhusten, ver-
dammter! Er ging mit keuchenden Atem und
langen Schritten
davon, und
hustete dabei
unentwegt bis seine Lungen wieder
frei
atmen konnten.

Unterdessen rappelte sich der ängstliche Knabe auf und ging schließlich seines Weges, aber das Buch, das unbedingt verstanden wollte ließ er liegen.
Nach einigen Schritten war ihm, als ob er schneller gehen könne, als ob eine Last von seinen Schultern gehoben worden wäre, als ob man ihn von einer schweren Stahlschürze
befreit
und ihm seine Kräfte wiedergegeben hätte.

Als die Frau den Käfig stellte, klappte das eiserne Türchen auf. Das Scharnier war locker und quietschte. Die Frau verließ den Raum, der Vogel wartete einige Minuten lang und inspizierte dann durch einen Flügelschlag die Luft auf der anderen Seite. Dann hüpfte er von dem Trapez auf den Tisch, von dem Tisch auf das Fensterbrett und von dem Fensterbrett aus dem Fenster.

Ein leiser, pflumpfender Ton war zu hören, als der Vogel nach wenigen Sekunden im
freien
Fall auf dem Buch, das unbedingt verstanden werden wollte, aufkam.

______________________
Du fragst nicht, was danach kommt, nach der Leichtigkeit im Schweben.


Zuletzt geändert von Der_Pate am Do 23. Mai 2013, 23:42, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: + Autor


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Mi 8. Mai 2013, 18:18 
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Dearie
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 Betreff des Beitrags: Re: [3. SW] Mittwochs-Melancholie.

Hallo lieber Autor :happy:

Wow, ich bin absolut begeistert von deiner Geschichte. Schon allein den Titel fand ich richtig toll, ich mag Alliterationen aber allgemein sehr gern. Und du hast ein Lieblingswort von mir im Titel verwendet. Das gab natürlich auch schon mal einen dicken Pluspunkt. :nerd:

Irgendwie war ich gleich drin in der Geschichte und finde, dass sie von Anfang an toll geschrieben ist.
Schön finde ich auch, dass du das Thema auch symbolisch umsetzen konntest (und das gleich zweimal schon im ersten Satz). Hach, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. ._.
Mich hattest du auf jeden Fall schon beim ersten Absatz und eigentlich dachte ich, dass du beim Vogel bleibst; aber nein, du hattest mehrere Handlungsstränge, die dann auch noch miteinander verflochten waren. Und alle Drei werden von irgendwelchen Lasten befreit: Der Knabe von dem Buch, das verstanden werden wollte, der Vogel von seinem Käfig - und naja, der Gärtner von seinem Husten ;D

Es gibt eigentlich noch so viel zu sagen, aber ich weiß nicht was, also lasse ich es besser. :D
Mir hat deine Geschichte absolut gefallen und dabei hast du auch noch meinen persönlichen Geschmack sehr getroffen! (:

:hug:

______________________
"It is so much easier to get people to hate something, than to believe."
- Peter Pan (OUAT)


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Mi 8. Mai 2013, 21:24 
Gesperrt
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 Betreff des Beitrags: Re: [3. SW] Mittwochs-Melancholie.

Ich fand die Geschichte auch ziemlich gut, noch dazu, weil sie einen einfach direkt gepackt hat und man wissen wollte, wie es weiter geht. Also Daumen hoch! Deinen Schreibstil find ich nebenbei gemerkt übrigens auch total gut, lässt sich schön lesen. :smile:


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Sa 25. Mai 2013, 18:44 
Prinzessin Lillifee
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Schon der Titel der Geschichte hat mich angezogen, sodass ich sie unbedingt lesen wollte. Als ich dann mit dem Lesen begonnen habe, wurden meine Erwartungen komplett erfüllt. Die Schilderung des Vogels am Anfang hat mich sehr überzeugt und es folgten weitere Formulierungen, die mir gefallen haben, so zum Beispiel "das Buch, das unbedingt verstanden werden wollte". Es ist dir gut gelungen, die drei Handlungsstränge zusammenzuführen und du hast das Motto schön umgesetzt. Mein einziger Kritikpunkt ist die Befreiung des Gärtners. Am Anfang hast du geschrieben, dass er mit seiner Arbeit unzufrieden ist, deshalb hätte ich es passend gefunden, wenn er sich davon irgendwie hätte befreien können. Dass er sich am Schluss nur für eine Weile vom Raucherhusten befreien konnte, hat mich enttäuscht.

Fazit: Eine sehr schöne Geschichte, die bei mir den dritten Platz belegt hat.

______________________
Pinguine fliegen unter Wasser


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Sa 25. Mai 2013, 21:05 
Pinkie Pie
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Kann nicht viel dazu sagen, außer das ich sie sehr schön fand.


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Fr 31. Mai 2013, 20:38 
Legende
bête
Minibildchen

Registriert: Di 31. Jan 2012, 19:11
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Huhu. :) Tolle Geschichte! Hat mir gut gefallen. Wieso sie bei mir trotzdem "nur" auf dem fünften Platz gelandet ist, hat leider wieder so einen doof subjektiven Grund. Vom Inhalt her haben die anderen vier Geschichten mehr mitgerissen :/

Vom Sprachlichen her gefällt mir deine Geschichte übrigens am besten. Wundervoller Stil, interessanter Inhalt, besonders den "Eilig sammelte der Gärtner die Setzlinge auf und.." Part fand ich richtig schön. Außerdem: Alliteration. :freu:

Schreib weiter, Waschbär. Und zeig mir dann, was du geschrieben hast, damit ichs mir ausdrucken und mein Zimmer damit tapezieren kann. :P


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Sa 1. Jun 2013, 12:44 
Legende
elchatem
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Registriert: Mi 1. Feb 2012, 20:45
Beiträge: 6251

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Blackened hat geschrieben:
Außerdem: Alliteration. :freu:

aww, ich dachte schon, niemand würde es bemerken,yay :freu:
Danke!

Arianta hat geschrieben:
Mein einziger Kritikpunkt ist die Befreiung des Gärtners. Am Anfang hast du geschrieben, dass er mit seiner Arbeit unzufrieden ist, deshalb hätte ich es passend gefunden, wenn er sich davon irgendwie hätte befreien können. Dass er sich am Schluss nur für eine Weile vom Raucherhusten befreien konnte, hat mich enttäuscht.

hmmm ja, dazu muss ich sagen, dass ich eigentlich zuerst vorhatte, den Gärtner auswandern zu lassen und damit seine Arbeit zurück zu lassen, aber ich wollte dann lieber zeigen, dass es eben nicht für alle ein "Happy End" gibt.
Ich dachte mir schon, dass das einigen nicht gefallen wird, trotzdem danke :smile:

______________________
Du fragst nicht, was danach kommt, nach der Leichtigkeit im Schweben.


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Sa 1. Jun 2013, 14:01 
Veteran
Dearie
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Registriert: So 4. Mär 2012, 22:07
Beiträge: 3818
Punkte: 17

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Danke bekommen: 633 mal

Waschbär hat geschrieben:
Blackened hat geschrieben:
Außerdem: Alliteration. :freu:

aww, ich dachte schon, niemand würde es bemerken,yay :freu:
Danke!

Jetzt fühle ich mich übersehen :( :nerd:

______________________
"It is so much easier to get people to hate something, than to believe."
- Peter Pan (OUAT)


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Weiblich 
BeitragVerfasst: So 2. Jun 2013, 18:43 
Legende
elchatem
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Registriert: Mi 1. Feb 2012, 20:45
Beiträge: 6251

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Lyn hat geschrieben:
Jetzt fühle ich mich übersehen :( :nerd:

oh, tut mir leid... ich hab das in deinem Post komplett überlesen, sorry :blush:

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