Das Geständnis
„Ich verstehe nicht, wie man zu so etwas fähig sein kann“, meinte sie zu ihrem Vater gewandt. Er sah sie lange an, ohne dass sie seinen Blick hätte deuten können. Als keine Antwort kam, zuckte sie mit den Schultern und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Das Licht des Bildschirmes flackerte über ihr Gesicht. Plötzlich wurde die Stimme der berichterstattenden Fernsehmoderatorin vom Geräusch einen Stuhles, der zurückgeschoben wurde, unterbrochen. Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der aufgestanden war und sich jetzt mit beiden Händen auf die Tischplatte stützte. „Ich schon“, entgegnete er mit bitterem Klang in seiner Stimme. Verwundert starrte sie ihn an.
Manchmal wünschte sie sich, es hätte diesen Abend nie gegeben. Dann wäre sie noch Teil dieser Familie trüge immer noch denselben Nachnamen. Hätte er doch nur den Mund gehalten! Sie verteufelte diesen Moment auch viele Jahre später noch so sehr, dass es ihr beinahe lieber gewesen wäre, niemals über die Wahrheit Bescheid zu wissen.
Er bemerkte, wie ihre Augen in der Hoffnung seine Gedanken zu erraten erstaunt über sein Gesicht wanderten. Es gab kein Zurück mehr, das wurde ihm in diesem Augenblick klar. Es war abends zu bereits fortgeschrittener Stunde und sie waren allein Zuhause, einzig das Licht des Fernsehers erhellte den Raum und warf tanzende Schatten über ihre Gesichter. Sie sahen sich zusammen die Nachrichten an, in denen über den Bürgerkrieg in Nepal berichtet wurde. Mit gebanntem Blick beobachtete sie die Bilder und lauschte den Worten. Das Entsetzen ob der gnadenlosen Brutalität stand ihr ins Gesicht geschrieben. Als sie sich einen Moment lang von den Bildern losreissen konnte, kam der scheinbar so belanglose Satz von ihren Lippen, der alles ins Rollen brachte.
„Ich schon“, wiederholte er, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Erneut schwieg er, es erschien ihr, als müsse er sich erst sammeln, als hadere er mit sich selber und müsse sich Mut zusprechen. Jetzt war es an ihm, alles zu erzählen, was ihm schon seit Jahren schwer auf dem Herzen lag. Er musste weit ausholen, denn die Geschichte begann schon vor ihrer Geburt. Genauer gesagt 1973, als Pinochet mit einem Militärputsch in Chile die Macht übernahm. Er war Polizist und erst seit wenigen Jahren in seinem Beruf, als er zu seinem Vorgesetzten gerufen wurde. Dieser unterbreitete ihm das verlockende Angebot, für geheime und besonders riskante Tätigkeiten seinen Lohn signifikant zu erhöhen. Er rief sich seine Kindheit ins Gedächtnis. Er, der selbst gerne in besseren Verhältnissen aufgewachsen wäre, konnte diese Gelegenheit nicht ausschlagen. Er dachte an seine Frau, mit der er eine Familie gründen wollte, und sagte zu. Bereits in der nächsten Woche nahm er die neuen Befehle seines Chefs entgegen und führte sie bald mechanisch und ohne mit der Wimper zu zucken aus. Des Nachts drangen er und andere Polizisten in Häuser ein und nahmen vermeintliche politische Gegner Pinochets fest. Sie brachten sie weg damit niemand je erfahren würde, was mit ihnen geschehen war. Manche von ihnen kamen nach schrecklichen Verhören, bei denen auch vor Folter nicht zurückgeschreckt wurde, wieder zurück, andere hingegen wurden zu „Desaparecidos“, Verschwundenen, und blieben für immer verschollen. So ging das 17 Jahre lang, bis zum Ende der Diktatur. Durch das noch während der Diktatur erlassene Amnestiegesetz konnten die meisten Kriegsverbrechen nicht belangt werden, auch er kam davon. Während der Aufarbeitung nach der Diktatur wurde das Amnestiegesetz zwar gelockert und er wurde mehrere Male vernommen. Es konnte jedoch nie auch nur eine seiner grausamen Taten nachgewiesen werden.
Während des Geständnisses begannen ihre Mundwinkel zu beben und ihre Augen wurden feucht, bis ihr erste Tränen über die Wangen rollten. Sie musste sichtlich um Fassung ringen und sah ihn unentwegt an, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrechen. Als seine Worte erstarben, betrachtete sie ihn noch immer stumm. Ihr elendiger Anblick schmerzte ihn zutiefst. Er sah eine Verstörtheit und Verletzlichkeit in ihrem Gesicht, die er bisher nicht gekannt hatte. Das dringende Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen überkam ihn, doch als er einen Schritt auf sie zu machte, wich sie zurück. Diese Bewegung löste sie aus ihrer Starre, ihr Gesicht veränderte sich und strahlte nun tiefsten Ekel aus. „Lass mich in Ruhe!“, schluchzte sie und rannte fluchtartig aus dem Haus in die Nacht hinein.
Wäre sie ehrlich mit sich selbst gewesen, hätte sie alles viel früher erfahren. Im Grunde genommen ahnte sie schon seit Jahren, welche Rolle ihrem Vater während der Herrschaft Pinochets zuteilwurde. Erfolgreich verdrängte sie jeglichen Verdacht. Sie wurde eine Meisterin darin, sich passende Ausreden zurechtzulegen. Nie hätte sie gedacht, wozu ihr Vater, der sich immer so liebevoll um sie gekümmert hatte, im Stande war. Spätestens im Alter von 14 Jahren, als die Diktatur ein Ende fand, hätte ihr einiges klar werden müssen. In der Schule wurde über die Ereignisse der letzten Jahre und über die zahlreichen „Desaparecidos“ gesprochen. Die Namen von Männern, die bei ihr Zuhause ein und aus gingen, wurden in den Zeitungen in Verbindung mit Kriegsverbrechen genannt. Und als sie mit ihrem Vater über die verschwundene Nachbarsfamilie sprach, entgegnete er ohne zu zögern und mit einer schrecklichen Gewissheit in der Stimme: „Sie ist tot.“
Sie blieb die ganze Nacht fort und kehrte in ihrem Leben nur zwei Mal in ihr Elternhaus zurück. Das erste Mal am darauf folgenden Tag um ein paar ihrer Sachen zu holen. Das zweite und letzte Mal einige Wochen später in Begleitung einer Freundin. Wortlos und jeglichen Kontakt vermeidend ging sie in ihr Zimmer und räumte ihre Besitztümer zusammen. Dann verschwand sie, ohne sich zu verabschieden. Nach dieser einen Nacht konnte sie ihrem Vater nicht mehr in die Augen sehen. Sie wollte nicht mehr von ihm abhängig sein, nicht mehr mit ihm unter einem Dach leben und beendete ihr Studium frühzeitig, um sich auf die Suche nach Arbeit zu machen. In der ersten Zeit kam sie bei einer Freundin unter, danach mietete sie eine bescheidene Wohnung am Stadtrand Santiago de Chiles. Immer wieder bekam sie Briefe von ihren Eltern, die sie jedoch ungeöffnet in den Müll warf. Selbst ihrer Mutter konnte sie nicht mehr trauen, da diese die Arbeit ihres Vaters tatenlos und schweigend akzeptiert hatte. Ihr Wissen quälte sie jahrelang. Durch die Einweihung ihres Vater hatte er sie zur Mitwissenden, zu seiner Komplizin gemacht. Dieses Wissen lastete schwer auf ihren Schultern. Eigentlich hätte sie zur Polizei gehen und gegen ihn aussagen müssen, doch dazu war sie nicht in der Lage. So hätte sie die Last loszuwerden und sich davon zu befreien können, aber sie brachte es nicht übers Herz. Ihr fehlte die Kraft dazu, die Schatten hinter sich zu lassen und sich von der Vergangenheit loszureissen.
Jahre später, im April 2001, ging sie im „Cerro Santa Lucía“, dem Stadtpark Santiago de Chiles, unter den erhabenen Bäumen spazieren. Hin und wieder wurde sie von herabfallenden Tropfen berieselt. Nach einem Regenguss stieg ihr der vertraute Teergeruch des vor Wärme dampfenden Asphalts entgegen. Einige Jogger überholten sie. Mitten in diesen ruhigen Nachmittag hinein drang das Geräusch eines klingelnden Handys, ihres Handys. Hastig kramte sie es aus ihrer Tasche hervor und klemmte es sich ans Ohr. „Guten Tag, hier spricht Joaquin Hérnandez vom „El Mercurio.“ Sie hielt den Atem an. Der „Mercurio“ war eine chilenische Zeitung von grosser nationaler Bedeutung. Vor einigen Tagen hatte sie der Redaktion einen Artikel über den heutigen Umgang mit der Diktatur zukommen lassen. Dafür hatte sie viele Gespräche mit anonym bleiben wollenden Betroffenen geführt, die ihr Schicksal teilten, und liess ihre eigenen Erfahrungen mit einfliessen. „Wir sind von Ihrem Artikel begeistert und würden ihn sehr gerne drucken. Er zeigt eine sehr ungewöhnliche und bisher wenig beachtete Perspektive. Deshalb wären wir an weiteren Beiträgen von Ihnen interessiert. Könnten Sie morgen Nachmittag bei uns vorbeikommen, um alles Weitere zu besprechen?“ Mit einem Strahlen im Gesicht bejahte sie. Glück durchströmte sie. Endlich hatte sie einen Weg gefunden, einen Teil der von ihrem Vater begangenen Fehler wieder gut zu machen und auf die immer noch verbesserungswürdige Situation des Landes aufmerksam zu machen. Das erste Mal seit dieser lange zurückliegenden Nacht verspürte sie ein Gefühl der Leichtigkeit.
______________________ Pinguine fliegen unter Wasser
Zuletzt geändert von Der_Pate am Do 23. Mai 2013, 23:42, insgesamt 1-mal geändert. |
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