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Männlich 
BeitragVerfasst: Di 7. Mai 2013, 17:51 
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Daughter of the Sea
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Minibildchen

Registriert: Mo 30. Jan 2012, 22:36
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Ein Augenblick der Sonne


Man konnte meinen die Stadt wäre gesund. Zumindest erweckte sie diesen Eindruck. Grüne Flächen, wispernde Bäume, wenig Gestank, hübsche Häuserfronten, kaum zerfallene Gebäude – all das sahen die Menschen dieser Stadt; und sie waren stolz. Stolz auf ihren Fortschritt, ihre Sauberkeit, ihr schönes Leben und die Zukunft. Er sah mehr. Hoch oben, weit über den Spitzen der roten Dächer, da schwebte er, der schwarze Staub der modernen Stadt. Er stahl ein wenig Frische und Lebendigkeit, doch wer merkte das schon in dieser Stadt? Das hektische Leben war ihre Normalität, das Land wurde immer kleiner. Die Menschen zog es fort, immer weiter in die großen Zentren. Bündelungen von Energie und Kraft. Er konnte es gut verstehen, doch es war schade. Man verlor die Freiheit in solch einer Stadt, die man nur auf dem Land kannte.
Doch was wusste er schon? Konnte er es überhaupt beurteilen? Während er darüber nachdachte bewegte er sich über die Dächer. Er war im Handwerkerviertel. Die Gebäude waren groß und breit, die Dächer flach und sie standen dicht beisammen. Ein perfekter Ort für Diebe, und tatsächlich gab es hier viele. Erst gestern hatte er die Alarmglocken gehört und gewusst, dass die Bande zugeschlagen hatte. Früher stahl man Gold und kostbare Kleidungsstücke, heute waren es DVDs und Handys. Unter sich hörte er Geschrei. Ein altes Weib keifte mit ihrer hohen krächzenden Stimme, vor ihr auf dem Boden lagen drei zerlumpte Gestalten. Kinder, wie es ihm schien. Sie klang erbost, hatte ihre Hand erhoben. In ihrem Rücken, versteckt hinter einem leicht modrigen Holzkasten, der wohl den Müll des Hauses vor Blicken verbergen sollte, kroch ein vierter Junge auf sie zu. In seinen kleinen Fingern hielt er ein Messer. Vermutlich aus der Tasche seines Vaters gestohlen, als Werkzeug um den Hunger zu stillen. Die Frau bemerkte nicht, wie er näher kam. Ihre Hand hob sich, sauste auf eines der Kinder nieder. Es begann zu weinen. Der Junge klammerte sein Messer fester und trat mutig einen Schritt nach vorne. Dann verschwand die Szenerie. Er musste weiter, hatte keine Zeit. Nun war er ebenso gehetzt wie all die Menschen dort unten, musste sich beeilen. Der große Schatten kam näher, die Uhr schlug Viertel Neun. Flink huschte er unter einem großen Balken hindurch und glitt hinab in eine lange, gerade Gasse. Hier war es noch hell, doch sie war leer, bis auf eine getigerte, kleine Katze. Sie saß zusammengerollt auf einem der Tische vor dem grünen Haus, das aussah wie eines der Speiseorte der Touristen. Sie regte sich kaum, doch sie war wachsam und genoss das letzte bisschen Wärme. Dann zuckte ihr Kopf und ihre Augen funkelten. Ein schwarz gekleideter Mann. Er lief gehetzt im Laufschritt über das Kopfsteinpflaster, auf seiner Stirn glänzten einige Schweißtropfen. In seiner Hand ein Handy, auf das er hektisch einredete. Er gestikulierte und schien dem Menschen am anderen Ende der Leitung etwas Wichtiges mitteilen zu wollen. Doch er sah nicht den Stein, der im Boden fehlte. Nur noch wenige Schritte und er würde fallen. Dann verschwand der Mann aus dem Blickfeld. Fort. Ein kurzer Ausschnitt aus dem Leben, wie all die anderen. Der Weg über die Dächer endete, als er auf einen großen freien Platz kam. Dunkle Gassen zweigten ab. Er konnte sie nicht betreten. Weiter, immer schneller. Eine helle, schmale Gasse. Keine Menschen, die Geräusche des Marktplatzes wurden leiser. Fast hätte er sie übersehen. Das kleine, verzweifelte Mädchen. Tränen auf den Wangen, das Gesicht verweint. Ihr Oberteil zerrissen, an die Wand gedrückt. Der Mann über ihr, lange weiße Haare. Er wollte helfen, musste helfen, doch er konnte nicht. Schatten legte sich auf das Gesicht des Mädchens, sie schrie nicht. Der Mann öffnete seine Hose. Dann war auch er weg. Schneller, immer schneller. Raus aus der Stadt, die Grenzen der Zivilisation als verschwimmende Streifen im Widerspruch zur Natur. Dort auf einer Wiese unter der alten Eiche zwei nackte Körper, die sich lieben. Er sah den Schweiß auf beider Haut, seine Hände auf ihren weichen Brüsten. Ihre Lippen berührten sich, schmeckten salzig. Sie lag auf dem Rücken, Augen geschlossen, stöhnte leise, er bewegte sich, immer schneller. Schaute in ihr hübsches Gesicht. Lächelte. Dann waren auch sie verschwunden. Zwischen die Bäume, hinauf die Wipfel, er bewegte sich immer schneller. Rasend schnell ging es nun, eilte weiter, suchte sein großes Ziel. Alles um ihn herum verschwamm – vorne hell und hinten dunkel. Die großen Berge - eben noch in weiter Ferne - waren der letzte Teil der Reise. An ihrem Fuße stieg er auf, gab den letzten Platz in diesem Lande frei der Dunkelheit nun hin.
Die Stadt und all die Randgebiete waren nun ohne Licht. Seine Zeit war aus, er sah nun nur noch aus der Ferne, konnte beobachten, doch nicht mehr. Er und alle seine Brüder. Kaum ein Mensch vermisste ihn wirklich, das wusste er, mittlerweile kannte er sie gut. Viele schlafen, doch die meisten wunderten sich nicht, ihnen ist es gänzlich egal. Das Schöne an so einer Stadt, dachten sie, war, dass egal ob Tag oder Nacht, es war immer hell. Riesige Leuchtreklamen, bunte Lichter, große Scheinwerfer, blasse Straßenlaternen. Sogar die flackernden Lichter hinter halb heruntergelassenen Fenstern. All das leuchtete hell. Doch war es nichts von der Schönheit des Tages, dachte er. Die Menschen nicht.
Der Hass, die Angst, das Unbehagen, all das waren Gefühle, die die Menschen ihm entgegengebrachten. Sie fürchteten sich. Manchmal konnte er ihre Angst riechen. Der Geruch erfüllte die gesamte Luft über der Stadt, genau dort wo auch der schwarze Staub war. Er fühlte sich allein, ungeliebt… Im Dunkeln wurde die Stadt wieder zu dem, was sie tagsüber nur schien. Ein grausamer Ort.
Doch er, nun richtig frei, flog durch die Luft, in die Atmosphäre, zu all den anderen Sonnenstrahlen. Bis er morgen früh bei Tagesanbruch mit dem Sonnenaufgang als erstes Licht die Stadt betreten wird, war er frei. So frei, wie nur das Sonnenlicht sein kann. Ein Stück der Sonne, ein Strahl. Der Sonnenstrahl, die echte Freiheit.

______________________
“And buried deep beneath the waves
Betrayed by family
To his nation, with his last breath, cried
»Beware the Daughter of the Sea«”


Zuletzt geändert von Der_Pate am Do 23. Mai 2013, 23:41, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: + Autor


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Di 7. Mai 2013, 21:16 
Pinkie Pie
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 Betreff des Beitrags: Re: [3. SW] Ein Augenblick der Sonne

Boah voll der gute Schreibstil :omg:

______________________
Bei jedem Atemzug stehen wir vor der Wahl das Leben zu umarmen, oder auf das Glück zu warten.


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Mi 8. Mai 2013, 17:28 
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Dearie
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 Betreff des Beitrags: Re: [3. SW] Ein Augenblick der Sonne

Und auch hier ein "Huhu lieber Autor"! :D

Erstmal: Eine richtig tolle Geschichte!
Mir gefällt sie von vorne bis hinten; der Stil ist toll und auch die Handlung an sich gefällt mir.

Toll finde ich den Einstieg, der die Schönheit der Stadt etwas beschränkt und darauf hindeutet, dass die Stadt eben nicht nur schön ist. Dadurch, dass erstmal positive Aspekte aufgezählt werden und sich dann nach und nach Dinge ereignen, die diesen Eindruck noch verstärken, wird das natürlich noch mal verstärkt.
Der Schluss passt sehr gut dazu und stellt die Verzweiflung des Protagonisten (wenn man ihn so nennen kann) sehr gut dar. Aber eben auch dieses Freiheitsgefühl, was für mich ein sehr gelungener Abschluss ist.

Mir gefällt deine Geschichte also wirklich richtig gut und das Motto hast du ebenfalls perfekt getroffen.

:hug:

______________________
"It is so much easier to get people to hate something, than to believe."
- Peter Pan (OUAT)


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Männlich 
BeitragVerfasst: Di 14. Mai 2013, 20:04 
Pinkie Pie
Jugendschutzbeauftragter
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Minibildchen

Registriert: Di 31. Jan 2012, 10:22
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 Betreff des Beitrags: Re: [3. SW] Ein Augenblick der Sonne

+Der Schreibstil ist weit oben angesiedelt. Denke das wird nicht die erste Geschichte des Autos gewesen sein :nerd:
+Themenumsetzung perfekt
+Der "Erzählstil" war sehr interessant, herausstechend
+Wie der Schluss formuliert wurde hat mir besonders gefallen

Schlecht fand ich nichts. Die Geschichte passt genau so, wie sie geschrieben ist. Alles in allem sehr gelungen.

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Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland,
keine Gesetze und auch kein Flaschenpfand!
Gegen Regierung und das Kapital,
die Grenzen weg, kein Mensch ist illegal!


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Sa 25. Mai 2013, 16:50 
Legende
elchatem
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ich kann nur den anderen zustimmen, es gibt nicht wirklich was zu bemängeln, außer vielleicht der häufigen Erwähnung von "Sonne" und damit verwandten Wörtern.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Geschichte länger wäre, sie war mir wirklich ein bisschen zu kurz dafür, dass sie so viel Inhalt hat.

Besonders gefallen hat mir der Teil ab "Die Stadt und all die Randgebiete waren nun ohne Licht." bis "Doch er, nun richtig frei, flog durch die Luft, in die Atmosphäre, zu all den anderen Sonnenstrahlen.". Die Stellen fand ich am aussagekräftigsten und sie enthalten einige tolle Formulierungen.

Den Titel fand ich gut gewählt, er macht die gesamte Geschichte irgendwie "rund" (hoffe man versteht, was ich meine^^). :smile:

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Du fragst nicht, was danach kommt, nach der Leichtigkeit im Schweben.


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Weiblich 
BeitragVerfasst: So 26. Mai 2013, 22:58 
Prinzessin Lillifee
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Als ich mit der Geschichte begonnen habe, wurde ich sofort hineingezogen und sie hat mich nicht mehr losgelassen. Ich wollte unbedingt wissen, wer der Protagonist ist und habe mir alle möglichen Gedanken darüber gemacht. Zuerst dachte ich an ein Wesen, das ohne Sonnenlicht nicht leben kann, an so etwas wie das Gegenteil von einem Vampir. Aber da ist wohl die Fantasie mit mir durchgegangen. :laugh:
Ich fand die Schilderungen der unterschiedlichen beobachteten Situationen toll, die immer nur einen Augenblick lang andauerten. Mir drängte sich die Frage auf, weshalb der Protagonist nicht helfen konnte, obwohl er wollte. Ich wartete gespannt auf die Antwort, wer er denn sein mochte. Als am Schluss endlich die Auflösung kam, war ich begeistert. Obwohl es eigentlich so offensichtlich sein müsste, bin ich nicht darauf gekommen. Auch das Motto wurde perfekt umgesetzt. Denn was kann schon freier sein als ein Sonnenstrahl in der Nacht?
Der einzige Kritikpunkt ist, dass es mir schleierhaft ist, weshalb die Menschen dem Tag gegenüber Hass, Angst und Unbehagen empfinden. Das sind doch eher Gefühle, welche die meisten der Dunkelheit entgegenbringen, und nicht dem Tag?
Trotz diesem Kritikpunkt hat mich die Geschichte so mitgerissen, dass sie bei mir auf dem ersten Platz landete.

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Pinguine fliegen unter Wasser


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Weiblich 
BeitragVerfasst: Fr 31. Mai 2013, 20:06 
Legende
bête
Minibildchen

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Huhu. Deine Geschichte hats bei mir auf den dritten Platz geschafft. Du kannst der Kuchisake Onna und Pates Auslands-Geschichten die Schuld dafür geben, dass es nicht der Zweite wurde. :nerd:

Inhalt hat gefallen, besonders die kleinen Szenen fand ich wundervoll. :happy: Guter Schreibstil, keine Fehler. Dass es keine deutlichen Absätze gab hat mich zuerst gestört, weils die Geschichte ein bisschen schwieriger zu lesen gemacht hat, eigentlich hats aber auch zum Inhalt gepasst. Das einzige, das mich ein wenig gestört hat, war der Teil: " Ein Stück der Sonne, ein Strahl. Der Sonnenstrahl, die echte Freiheit." Man erkennt den Bezug zum Thema schon, da müsste mans eigentlich nicht nochmal deutlich machen, obwohls natürlich schön formuliert ist. :)

Zusammenfassung: Geile Geschichte, schreib weiter. :P


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Männlich 
BeitragVerfasst: Fr 31. Mai 2013, 21:30 
Pinkie Pie
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Minibildchen

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Blackened hat geschrieben:
Das einzige, das mich ein wenig gestört hat, war der Teil: " Ein Stück der Sonne, ein Strahl. Der Sonnenstrahl, die echte Freiheit." Man erkennt den Bezug zum Thema schon, da müsste mans eigentlich nicht nochmal deutlich machen, obwohls natürlich schön formuliert ist. :)


Danke! Ich dachte schon, ich war der einzige, dem diese Holzhammer-Schlusszeile auf den Sack gegangen ist! :nerd: :laugh: :laugh:
Ich sagte es ja schon bei meiner Bewertung im allgemeinen Thread: unter anderem deshalb hat es bei mir nicht für Platz 1 gereicht...

Und ja, Cheffe: Du bekommst Deine ausführliche Bewertung noch. :laugh: Vielleicht schon morgen. :smile:

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»Was kostet die Welt?«

»Oh. Dann ne kleine Limo, bitte!«


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Männlich 
BeitragVerfasst: Sa 1. Jun 2013, 14:43 
Pinkie Pie
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Minibildchen

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Schon der erste Satz hat mich begeistert, abgesehen davon, dass ihm ein Beistrich fehlt: "Man könnte meinen, die Stadt wäre gesund." Ich mag solche unvermittelten Einstiege, wie sie für die "klassiche Kurzgeschichte" konstitutiv sind, sehr gerne, zumal man als Leser an solch einem Einstieg auch schon erkennen kann, dass die Geschichte vermutlich gut werden wird.
Ziemlich schnell wird dann der "Protagonist" eingeführt, der in diesem Fall höchst ungewöhnlich ist; es handelt sich ja nicht einmal um ein Lebewesen. Der Autor wählt eine sehr ungewöhnliche Perspektive, die in der Geschichte jedoch gut umgesetzt wird. Allgemein gefällt mir dieser "Einführungsabsatz" sehr gut, nur einige Dinge hätte ich gerne weiter ausgebaut gesehen. Beispielsweise hätte man gerne noch mit einem oder zwei Halbsätzen darauf eingehen können, weshalb das Sonnenlicht es verstehen kann, jedoch schade findet, dass die Menschen in die Städte ziehen.
Die Erzählperspektive ergibt sich bei diesem "Protagonisten" ja fast notwendig von selbst, als flüchtiger beziehungsweise flüchtender Blick von oben, hinunter auf die Stadt. Diese Stadt wird sehr detailreich und lebendig geschildert, das Handwerkerviertel, das Geschrei, der Hinterhof. Immer wieder folgen nun kleine, kammerspielartige Szenen, die nur angerissen werden, ehe sie aus dem Blickfeld des "Protagonisten" verschwinden. Diese Szenen sind mit Sicherheit das Highlight der Geschichte, insbesondere beim seinem ersten Auftreten fand ich dieses Stilmittel absolut genial! Die Textstelle mit dem Jungen und dem Messer kann nicht genug gelobt werden.
Auch im Folgenden ist die Schilderung der Stadt in der Draufsicht überzeugend, wird jedoch leider plötzlich (und sinnlos!) unterbrochen; ich beziehe mich auf folgenden (Un-)Satz: "Ein kurzer Ausschnitt aus dem Leben, wie all die anderen." Wie man später noch deutlicher sehen wird, hat der Autor die Gewohnheit, derlei "belehrende" Sätze einzubauen, deren Sinn ich nicht ganz verstehe. Der Leser versteht auch ohne diesen Einschub, dass der "Protagonist" das "Leben der Anderen" nur bruchstückhaft zu Gesicht bekommt; im Gegenteil versteht er es ohne diesen Einschub womöglich sogar besser, da er nicht herausgerissen wird aus dem Empfinden der Stadt!
Sprachlich ist die Geschichte übrigens (fast) frei von Mängeln (von einem Tempus-Fehler abgesehen); das erwähne ich an dieser Stelle, da hier der einzige subjektive Makel sprachlicher Art zutage tritt: "Fast hätte er sie übersehen. Das [...] Mädchen." Da bevorzuge ich doch eindeutig ein "Fast hätte er es gesehen", wenn das Mädchen gesehen werden soll. Ich weiß, dass es gemäß den geltenden Regeln zulässig ist, an dieser Stelle Genus und Sexus zu vermischen - schöner klingt es dadurch aber auch nicht.
Der "Protagonist" bewegt sich nun allmählich aus der Stadt hinaus, die Schilderung des "Erdenlebens" aus der Vogelperspektive bleibt jedoch erhalten, und wichtiger: bleibt weiterhin gut. Es ist nicht so einfach, Sexszenen zu schreiben, wenn diese stilistisch noch immer in die Restgeschichte passen und nicht wie ein schlechter Porno klingen sollen. Dem Autor ist es an dieser Stelle gelungen!
Der Absatz der szenischen Schilderungen endet mit einem Satz, der vom Ton her nicht wirklich in diese Geschichte passt, was vor allem an der Wortstellung liegt: "[...] gab den letzten Platz [...] frei der Dunkelheit nun hin" - das klingt schon ziemlich altväterlich, was die Geschichte ansonsten eben nicht ist. Das möchte ich aber ausdrücklich als "Kleinigkeit" verstanden wissen, nicht als wirkliches Problem.
Die anschließende Schilderung der Lichter der Stadt ist ebenfalls überzeugend, besonders gefallen mir jedoch die letzten Sätze vor dem letzten Absatz: "Im Dunkeln wurde die Stadt wieder zu dem, was sie tagsüber nur [zu sein] schien. Ein grausamer Ort." Ich habe eine Einfügung angebracht, mit der ich den Satz sprachlich besser gefunden hätte - die Idee fand ich jedoch sehr toll! Womöglich funktioniert sie aber andersrum sogar noch besser, wenn nämlich die Stadt bei Nacht nur grausam scheint und es bei Tage wirklich ist.
Der Schluss-Absatz beschreibt nun quasi das Nachtprogramm des Sonnenstrahls, der frei ist, wenn er nicht in der Stadt sein muss. Hier wird die Perspektive vom Beginn noch einmal aufgegriffen, daran erinnert, wer denn der Protagonist ist, um was es eigentlich geht. Als Abschluss hätte sich folgender Satz geeignet: "Bis er morgen früh bei Tagesanbruch mit dem Sonnenaufgang als erstes Licht die Stadt betreten [würde], war er frei." Hier hätte man als Schlusspunkt das Adjektiv frei, was den Bezug zum Wettbewerbs-Thema, welches übrigens gut getroffen wurde, perfekt unterstreichen würde, ohne dabei allzu belehrend zu sein. Denn genau dies sind die folgenden Sätze: belehrend. Insbesondere der letzte Satz ("Der Sonnenstrahl, die echte Freiheit.") muss fast schon als Frechheit dem Leser gegenüber bezeichnet werden. Das ist wirklich schade, denn es heftet dem ansonsten durchweg positiven Gesamteindruck, den die Geschichte zweifelsohne hinterlässt, einen etwas faden Nachgeschmack an. Denn wenn ein Leser eine Sache nicht mag, dann mit Sicherheit, für dumm gehalten zu werden.

Den Titel finde ich übrigens nicht wirklich passend, da die geschilderten Ereignisse doch einen deutlich längeren Zeitraum einzunehmen scheinen als "einen Augenblick".

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