Die Unschuld blassblauer Augen
»Auch der Vogel in seinem Käfig verliert nicht die Kraft zu fliegen. Er wird versuchen die Flügel zu spannen, auch wenn er keinen Erfolg beim Abheben findet. Immer wird ein kleiner Funke Hoffnung ihn dazu treiben, es wieder zu versuchen.«
Ihre roten Locken tanzten, wenn sie lief. Immer wenn sie sich mit einer Hand durch ihre Haare fuhr, waren die Blicke der Leute um sie herum dazu verdammt, ihr hinterher zu schauen. Mit welch einer Lebensfreude und Leidenschaft sie auf die Leute zuging, war einzigartig. Nur die Schatten in ihren blassblauen Augen ließen vermuten, dass ihre Unbeschwert nicht echt war.
Der lichtdurchflutete Flur schien schier endlos lang zu sein. Selig lächelnd begann sie die Wäsche von der Leine zu nehmen und dachte an den letzten Tag. Sie hatte im Park einen gutaussehenden jungen Mann kennengelernt, der sie auch gleich zu einem Dinner eingeladen und mit dem sie einen schönen Abend verbracht hatte. Wahrscheinlich würden sie sich heute Abend wiedertreffen, er wollte im Laufe des Tages anrufen, um ihr Bescheid zu sagen. Besser konnte der sonnige Tag nicht werden, dachte sie und hob den Korb vom Boden auf. Der Tag konnte beginnen. Die leisen Schreie bemerkte keiner; der Wind rauschte, die Vögel zwitscherten. Ein schöner Sommermorgen. Bedächtig bügelte sie ihre Kleider, noch gründlicher als sonst, um gut für heute Abend vorbereitet zu sein. Das Lächeln ruhte immer noch auf ihrem Gesicht, die dunkelbraunen Augen konzentriert auf das pastellgrüne Kleid geheftet, sanft summend. Vielleicht sollte sie doch lieber das blaue Kleid nehmen? Wäre das grüne nicht zu aufdringlich? Ihre Entschlossenheit wurde nicht lange auf die Probe gestellt. Offenbar war sie einen Moment weggetreten und hatte dabei das Bügeleisen zu lange auf einer Stelle ruhen lassen. Ein hässliches Brandloch zierte nun das einst wunderschöne grüne Kleid. Ärgerlich schoben sich ihre Augenbrauen zusammen und auf ihrer Stirn konnte man sogleich die Folgen in Form von kleinen Fältchen bewundern. Es stahl ihr zwar nicht ihre Schönheit, dennoch waren sie nicht schön anzuschauen. Hoffentlich rief er bald an. Sie konnte nicht länger warten. Doch der Tag verging; die Sonne schien weiter am Himmel und die Vögel zwitscherten. Unablässig, immer lauter. Zum Verrückt werden. Ungeduldig tippten ihre Schuhe auf die Fliesen der Küche, in der sie saß, Kaffee trank und ein Buch in den Händen hielt. Lesen konnte sie nicht; immer, wenn sie es versuchte, verschwammen die Sätze und sie konnte sich nicht länger auf den Text konzentrieren. Geschweige denn, auf ein einziges Wort. Seufzend erhob sie sich. Die dunkelbraunen Augen traurig auf das Fenster geheftet.
~ * ~
Und der Himmel verdunkelte sich, während der Mond hell auf das einsame Haus schien. Der Flur war noch immer lichterfüllt. Mittlerweile war die Küche leer und der Kaffee kalt. Das Buch stand auf seinem üblichen Platz im Regal. Von der rot gelockten Schönheit keine Spur. Und auch die Vögel waren verschwunden. Still war es trotzdem nicht. Säße man in der Küche, könnte man das Schluchzen deutlich hören. Stünde man im Flur, könnte man das Schluchzen nicht hören. Im Keller hörte man das Schluchzen nicht nur, man fühlte und sah es auch. Und man sah auch die roten Locken. Der Keller bildete einen anschaulichen Kontrast zum Flur; keine Spur von der hellen Höflichkeit, noch von dem Geruch von Kaffee und Sonnenschein. Modrig roch es und das Dämmerlicht ermöglichte nur undeutliche Einblicke in den Raum. Doch das, was man sah, reichte. Die Wände waren aus Stein, modriges Moos zog sich an ihnen hoch und feucht waren sie obendrein. Vielleicht bildete man sich aus diesem Grund ein, dass es plätscherte. Oder aber es plätscherte wirklich. Interessant war dennoch die Szene in der Mitte des Raumes. Dort stand sie. Die Schönheit vom vergangenen Tage nicht verschwunden. Nur hatten sich ihre Augen verändert. Warum waren sie nicht mehr dunkelbraun? Neben ihr hockte ein hübscher, junger Mann; ausgezogen, halb bewusstlos und die Augen schwach auf sie gerichtet. Unfähig ein Wort zu sagen. Unfähig Widerstand zu leisten. Sie tat, was sie tun musste. Sie presste ihn an die Wand, umschloss das Messer in ihrer Hand noch ein bisschen fester und stach zu. Das sanfte Geräusch von durchbohrtem Fleisch. Das Keuchen, das schwach aus seiner Kehle kam. Sie ließ ihn los. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund, während sie vorsichtig über die anderen Körper hinweg ging. Die wertvollen Körper sollten doch nicht beschädigt werden. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, legte sie sich ins Bett und schloss die blassblauen Augen.
~*~
Frischer Kaffeegeruch erfüllte die Küche. Von Schreien, toten Körpern, Moder und blassblauen Augen keine Spur. Einzig und allein die Locken sind geblieben. Munter summend schmierte sie sich ein Butterbrot, während sie überlegte, warum er sie gestern nicht mehr angerufen hatte. Ob er wohl kein Interesse an ihr hatte? Die Milch war alle. Sie seufzte erschlagen, hatte keine Lust in den Keller zu gehen, da sie dort nicht gerne war. Eigentlich war sie dort schon ewig nicht mehr. Dennoch wollte sie Milch und die Milch trieb sie schließlich dazu, ihre Hausschuhe überzuziehen und die Kellertür aufzumachen. Ein schrecklicher Geruch schlug ihr entgegen. Eine Mischung aus Moder, Verwesung und Fäkalien. Was war hier los? Der Lichtschalter zu ihrer rechten verriet es ihr, in dem er von ihr betätigt wurde und den Blick freigab. Übelkeit kitzelte an ihrem Gaumenzäpfchen. Sie versuchte es zu unterdrücken, doch die toten Körper auf dem Boden und der Geruch waren zu viel, sodass sie vor ihren Füßen erbrach. Wo kamen diese... Menschen her? Wie lange lagen sie schon hier? Obgleich sie nach Antworten suchte, sie blieben unbeantwortet. Es konnte sie doch keiner hierher geschafft haben? Wankend machte sie das Licht wieder aus, schloss die Tür des Kellers und nahm an dem Küchentisch Platz. Mit leerem Blick starrte sie aus dem Fenster. Stundenlang. Keine Minute verging. Verging ohne, dass sie blinzelte. Das Dunkelbraun wurde heller.
Und die Erinnerungen kamen, überrannten sie. Verzerrte Bilder, Bilder, die sie verdrängt hatte. Bilder, die weh taten. Bilder, die Schlimmes verrieten.
Und die Welt schien kleiner zu werden. Schrumpfte auf den langen Flur und die Küche mit dem Kaffeegeruch zusammen.
Die Schönheit mit den roten Locken und den blassblauen Augen, die ihr Leben nicht gelebt, sondern getötet hatte. Zitternd stand sie auf und ging nach draußen. Die Sonne schien.
______________________ "It is so much easier to get people to hate something, than to believe." - Peter Pan (OUAT)
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