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BeitragVerfasst: Di 27. Jun 2023, 00:25 
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such is life
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Minibildchen

Registriert: Di 14. Feb 2012, 21:20
Beiträge: 54107
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Zum BeitragBrexpiprazole hat geschrieben:
Ich hab im Kino einen extrem immersiven neuen Horrorfilm von Roman Polanski gesehen.
Ich hab das gestern Nacht ein bisschen modifiziert und zu ner Kurzgeschichte verarbeitet. 6,5h, davon so 1h Pause und 1h Zeit für Korrekturen.

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Polana

Endstation. Der Bus wurde langsamer und blieb schlussendlich stehen, Staubwolken wirbelten sich um die Reifen herum auf und waberten an den Fenstern vorbei. Draußen war, abgesehen von den Schemen dürrer Bäume, kaum etwas durch die trüben Fenster und den Staub hindurch erkennbar. Das Innere des Busses war sehr farblos und dunkel. Außer dem Jungen und dem Fahrer war schon lange, sehr lange, niemand mehr im Bus.
Die Hintertür öffnete sich mit einem mechanischen Zischen, sie quietschte ein wenig.
Der Junge blieb noch ein paar Sekunden auf seinem Platz am Gang sitzen und schaute zum Fahrer. Dieser saß regungslos in seiner Kabine und sah durch die Frontscheibe nach vorne, sichtbar nur sein kahler, starrer Hinterkopf. Der Staub legte sich langsam.
‚Hier muss ich wohl aussteigen‘, dachte der Junge. Die offene Tür wartete geduldig auf ihn. Die Luft, die von draußen hinein sickerte, fühlte sich stickiger an als die im Bus. Er lief langsam nach hinten, seine Schritte hallten hohl und blechern auf dem Boden wieder. Dann hüpfte er nach draußen auf den sandigen Boden der Bushaltestelle, unter seinen Schuhen knirschte es. Eine kleine Station, mit matt-durchsichtigem Plastik überdacht und einer Bank aus uralt aussehendem, modrigem Holz. Nirgendwo ein Fahrplan, aber ein einziges, erblasst-buntes Poster mit unlesbaren Zeichen und Bildern aus dem Zirkus darauf.
Er sah sich um. Ringsherum nichts als steinig-sandige Wüste und trockene Luft; hier und da ein toter, schwarzer Baum mit langen Ästen. Es gab hier nicht einmal eine Straße; auch nicht aus der Richtung, aus der der Bus gekommen war.
‚Hier wohne ich eigentlich nicht‘, überlegte der Junge. ‚Diesen Ort gibt es gar nicht‘. Der Bus wartete mit angelassenem Motor, er klapperte leicht. Der Junge lief nach vorne und spähte zum Fahrer hinein. Dieser starrte weiterhin zur Frontscheibe hinaus. Sein Gesicht wirkte konzentriert, aber neutral. Seine Haut war so ledrig. Wahrscheinlich war er kein echter Mensch, vermutete der Junge.
Er musste jetzt aber trotzdem langsam gehen.
Deshalb drehte er sich zurück, lief hinter die Haltestelle und von dort aus geradeaus ein paar Schritte weiter. Hinter ihm ertönte das Zischen der Tür, der Bus fuhr langsam wieder los. Der Junge drehte sich nochmal um und schaute ihm hinterher. Es dauerte eine Weile, bis der Bus hinter dem Horizont verschwunden war. Die hohe Staubwolke, die er aufwirbelte und dauerhaft hinter sich her zog, verblieb noch ein wenig länger in der Luft. Bald war aber auch diese weg.
Die Abendsonne stand tief am Himmel, es war windstill.

Der Junge drehte sich wieder um und lief weiter. Allmählich ließ er auch die Haltestelle immer weiter hinter sich, bis sie ganz verschwunden war. Hier und da war die Umgebung ein wenig hügelig, teilweise sah man sogar eine kleine Stelle mit gelblichem Gras, aber größtenteils verlieb sie als Wüste. In der Ferne sahen die vertrockneten Bäume wie Silhouetten aus, die nach dem Nichts griffen.

Seit der Bus weg war, war es sehr still gewesen, aber langsam tauchten nach und nach wieder verschiedene Geräusche auf. Die Kulisse fühlte sich ähnlich an wie im Bus, aber nur oberflächlich.
Mechanisches, eisernes Quietschen von schwerem Gerät, das hin und her geschoben wird. Dumpf und fern, wie eine Fabrik tief unter Wasser. Stellenweise wirkte es sogar, als würde jemand erfolglos versuchen, eine Melodie zu spielen. Es klang wie ein Lied, aber ohne Struktur - die Töne waren schief, teilweise deutlich zu hoch oder zu tief, dann wieder plötzlich abgehackt oder zwei Geräusche konkurrierend übereinander. Der Junge fing damit an, zu der Melodie zu singen. „La la la, la la la“. Ihm fielen keine Worte dazu ein, also lautierte er langsam.

Mittlerweile tauchten rechts und links verschiedene Gerätschaften auf, jeweils weit voneinander entfernt. Ein halb im Sand vergrabenes, auseinandergefallenes Fahrrad, eine Autokarosserie, eine Mikrowelle. Alles war fast vollständig kupferfarben vom Rost. Ein Führerhaus einer altmodischen Lok auf einem kleinen Stück Gleis. Weit weg waren manchmal sogar graue Häuserruinen erkennbar.

Während der Junge so weit in die Ferne sah, bemerkte er, dass er beobachtet wurde. Es war kaum sichtbar, aber in weiter Ferne, in der Richtung in die er lief, leuchtete etwas. Nicht dauerhaft; es blitzte immer wieder kurz auf.
Die Abendsonne stand seit Stunden an gleicher Position am Himmel - es wurde nicht dunkler.
Gespannt darauf, wer dort hinten so flackerte, ging er singend weiter.
Es fühlte sich an wie ein paar Tage später, auch wenn die Sonne weiterhin regungslos am Horizont stand. Der Beobachter war bisher nicht näher gekommen, aber allmählich wirkte es, als wäre das entfernte Licht etwas größer und stärker. Sicher dauerte es jetzt nur noch wenige Stunden.
Und diese vergingen schnell.

Der Junge näherte sich einem Steinhaufen mit ein wenig totem Gras, in dem das Gestell eines Kinderwagens lag. An diesem war etwas festgebunden. Zuerst konnte er es nicht erkennen, da er plötzlich geblendet wurde. Nach ein paar Sekunden erholte sich seine Sicht schrittweise wieder von weiß zu normal. Ein großer Luftballon! Gefüllt mit Helium. Mit einer Schnur festgebunden, damit er nicht wegflog. Bedruckt in kräftigen, tiefen Metallic-Farben, die immer dann kurz wie ein Leuchtfeuer aufflammten, wenn der Ballon bei seinen langsamen, schaukelnden Bewegungen eine ganz bestimmte Stelle unter der Sonne erreichte.
Das Motiv war eine Art Babuschka-Puppe mit einem großen, kalkweiß geschminkten Gesicht, mit tiefroten Haaren und Lippen und farbenfroher Kleidung. Das schönste waren die runden Augen. Sie standen weit nach vorne, als würden sie gleich platzen, starrten milchig-blutunterlaufen und sahen dabei völlig realistisch und lebendig aus, mit stechend schwarzen Pupillen, die als einzige Stellen kein Licht reflektierten. ‚Der erste Mensch, dem ich begegne‘, dachte sich der Junge, während er sie aufmerksam anschaute. Er löste den Knoten und band sich den Faden um die Hand, der Ballon war jetzt an ihm befestigt.

So wanderten die beiden Freunde noch, wie es sich anfühlte, einige Tage und Nächte weiter durch das endlose Abendlicht, begleitet von und singend mit der nie enden wollenden, eisernen, unförmigen Symphonie aus der Ferne. Vorbei an den Bäumen, vorbei an all den ausrangierten Gegenständen.
Bis sich irgendwann, kaum erkennbar, geradeaus ein Gebäude in das Sichtfeld der Wanderer schob, noch ähnlich klein wie zuvor das Licht des Ballons. Keine Ruine diesmal. Als sie näher kamen, fügten sich langsam, Schritt für Schritt, Details zur Struktur hinzu, bis das Haus endlich aussah wie eine große Villa aus morschem, dunklem Holz, eingeschlagene Glasfenster, mit einer Treppe vor dem Eingang, und der Junge und sein Begleiter direkt vor dieser standen.
‚Hier wohne ich ‘, dachte er sich, und stieg die Stufen hinauf. Die große Tür war nicht verschlossen, also ging er einfach hinein. Die Geräusche von draußen hörten just in diesem Moment auf, und es herrschte fast absolute Stille – bis auf ein schweres, dauerhaftes Ticken aus einem anderen Raum.
Den Ballon löste er sich vom Handgelenk, dieser stieg im Eingangsbereich bis an die Decke. Der Faden war noch erreichbar, also ließ er ihn dort vorerst hängen.
In den nächsten Tagen schaute der Junge sich überall in seinem Zuhause um, schlenderte unbekümmert von hier nach da. Die Villa war groß, also gab es viel zu erforschen. Dadurch, dass es nie ganz dunkel wurde und alle Fenster offen waren, war es in den meisten Räumen dauerhaft hell genug, um alles zu erkennen. Etwas helleres Licht wäre angenehmer für die Augen gewesen, aber es gab keine Schalter oder Lampen.
Im ganzen Inneren des Gebäudes war es recht staubig, es war aber nicht derselbe sandige Staub wie draußen. In vielen Ecken waren alte, zerrissene Spinnennetze zu sehen, jedoch war nirgendwo eine Spinne in Sicht. Alles war schmucklos und aus Holz. In den Räumen befand sich, außer hier und da ein paar sehr schlichten Möbeln und Schränken, nichts. Keine Bilder, kein Schmuck, keine Gegenstände. Der Junge hatte alle Schränke geöffnet, die er gefunden hatte. In einem lagen einmal ein paar Steine; den schönsten hatte er sich eingesteckt.
In einem der Seitenräume des Eingangsbereiches befand sich eine große, massive Standuhr. Auch sie sah sehr alt aus, funktionierte aber noch gut. Mit ihren Metall- und Glasteilen war sie das einzige hier, was nicht nur aus Holz bestand. An ihr konnte der Junge erkennen, dass er nun schon tatsächlich seit einigen Tagen in der Villa war. Gesehen hatte er immer noch nicht alles. Schlafen und Essen musste er noch nicht. Wenn er sich ausruhen wollte, setzte er sich vor die Uhr und schaute sie sich genau an.
Von außen war gut erkennbar gewesen, dass das Gebäude mehrstöckig war, aber bisher hatte er immer noch keine Treppe gefunden. Nachdem er diesen Gedanken hatte, begann er nach einer zu suchen.
Als er eines Tages durch eine Reihe von neuen Räumen und Türen ging, stieß er erstmals seit einiger Zeit wieder auf den Eingangsbereich. Der Ballon war weg, aber dafür war hier tatsächlich eine Treppe, die nach oben führte. Die musste er beim letzten Mal übersehen haben. Der Ballon war wohl schon nach oben gelangt, um sich dort umzusehen. Der Junge ging die Treppe hoch. Die Bretter auf den Stufen waren zum Teil recht wackelig, leichte Fußspuren waren im Staub erkennbar.

Angekommen im neuen Stockwerk begann der Junge seine Routine von neuem. Er sah sich alle Räume und Schränke an und zwischendurch ruhte er sich da aus, wo er gerade wollte. Zur Uhr konnte er nicht mehr; er hatte bisher die Treppe nach unten nicht wieder gefunden. Das Ticken war nur noch dann leise zu hören, wenn man sich darauf konzentrierte.

Einige Zeit später fand er einen neuen Raum, der aussah wie eine Küche mit einem Esszimmer. Er hatte eine Arbeitsfläche, viele Schränke und einen großen, stabilen Tisch in der Mitte. Besteck oder Geschirr konnte er in keinem der Schränke finden.
Als er die letzte Tür öffnete, starrte ihn das Babuschka-Gesicht regungslos aus dem Inneren des Schrankes heraus an.
Der Gesichtsausdruck des Ballons war unverändert, und er war weiterhin prall mit Helium gefüllt. Der Junge hatte sich schon gefragt, wohin er verschwunden war.
„Er versteckt sich immer in einem anderen Schrank“, sagte ein anderes, kleineres Kind, das von hinten auf den Jungen zukam und sich jetzt neben ihn stellte. „Ich muss ihn immer finden, sonst fängt er irgendwann an zu zählen“. Der Junge schaute das andere Kind an. ‚Das ist mein Bruder‘, dachte er sich. „Ich mag den nicht“, beschwerte sich der Bruder, und setzte sich, beobachtet vom Jungen und dem Ballon, an den Esstisch und vergrub beleidigt seinen Kopf in seinen Armen.

In den Tagen und Wochen darauf spielten alle drei gemeinsam das Spiel. Die Kinder hatten sich getrennt, um den Ballon schneller zu finden. Das funktionierte normalerweise gut, aber jetzt hatten sie schon alle Zimmer, Ecken und Schränke abgesucht, wo das Gesicht normalerweise sein konnte. Der Junge und der Bruder begegneten sich im Esszimmer. „Wir müssen uns beeilen, ich hab ihn schon gehört“, sagte der Bruder und lief voraus. Der Junge hatte nichts gehört.
„Hier hab ich was gehört“. Das andere Kind lief einen Flur entlang und drehte sich immer wieder nach dem Jungen um. Am Ende stand eine Trittleiter die fast bis zur Decke reichte, sie führte zu einer verschlossenen Klappe. Ein Dachboden. Beide hatten ihn bisher noch nie bemerkt.
Der Junge kletterte vorsichtig hoch, während der Bruder unten die Leiter festhielt, und schob die Klappe nach oben. Er zog sich auf den Dachboden und schaute sich um. Es roch nach nassem Holz. Hier war es etwas dunkler als im Rest des Hauses, weil nur ein kleines Fenster an der Wand war. Die Welt außerhalb des Fensters war wie sie immer war. In der Ferne wirbelten sich große Staubwolken auf - vielleicht kam gerade der Bus.
In einer Ecke stand ein schmaler, trüber Spiegel auf dem Boden. Davor schwebte halbhoch der Ballon. Mit vorsichtigen Schritten ging der Junge auf ihn zu, mit beiden Händen packte er den Ballon von hinten und drehte ihn zu sich um. Das fühlte sich weich und warm an. Sechs Augen schauten ihn jetzt an. Zwei gehörten dem Ballon in seinem Fleisch und Knochen, zwei ihm und dem Ballon von der anderen Seite. Er genoss das eine ganze Weile, setzte sich sogar auf den Boden. Hier oben war es wirklich wunderbar und komplett still. Weil er so wenig blinzelte, wurden seine Augen langsam trocken und rot, alles sah jetzt etwas trüber und verschwommener aus. Seine Zähne fingen auch langsam an zu knacken, weil er sie so fest aufeinander presste. Da merkte er erstmals, dass er langsam Hunger bekam.
Er stand auf und schlug mit so viel Wucht, wie er nur konnte, seine Stirn gegen den Spiegel, sodass dieser in viele große und kleine Teile zerbrach. Ein paar der kleineren Stücke steckte er sich in den Mund, kaute langsam und bewusst darauf herum, während er in seinem Kopf die splitternden Geräusche hörte und sich daran erfreute. Dann spuckte er die Stücke auf den Boden, wo sie zusammen mit einem dicken Stück seiner Zunge und ein paar Zähnen mit einem feuchten Geräusch aufkamen.

Das Gesicht ließ er oben zurück, damit es sich wieder verstecken konnte, wenn es wollte.
Als er unten an der Leiter angekommen war, schaute ihn der Bruder verwirrt an - vielleicht wegen des ganzen Blutes in seinem Gesicht.
Bevor das andere Kind etwas sagen konnte, nahm der Junge den schönen Stein aus seiner Tasche und schlug ihn mit viel Schwung und aller Kraft auf die Nase des Spielkameraden, wobei ein lautes Krachen scharf durch die Luft schoss. Der Bruder fing explosionsartig an zu schreien, aber der Junge schlug weiter zu, bis die Geräusche immer gluckernder und nasser wurden. Die eitrig tränenden, wild rollenden Augen des Bruders traten bald weit aus dem Schädel hervor, alle Adern geplatzt, und er schnappte panisch an Blut gurgelnd immer erfolgloser nach Luft.
Mit dem nächsten Schlag tötete der Junge das andere Kind.
Dessen Schädel platzte dabei auf und ein wenig beiger Matsch kam heraus. Der Stein war jetzt dunkelrot und noch ein bisschen schöner als zuvor.
Den Körper zog der Junge dann hinter sich her bis zum Esszimmer, wo er ihn mit viel Aufwand auf den Tisch bugsierte.

In den folgenden Tagen trocknete die Blutspur und wurde pechschwarz. Der Junge hatte sich mittlerweile ein großes Spiegelstück vom Dachboden geholt, und schnitt damit an der Leiche herum so gut er konnte. Am ersten Tag hatte er die Teile vom Kopf, die Augen und dergleichen gegessen, die ohnehin bereits locker waren. Der Ballon versteckte sich mittlerweile nicht mehr - er war zu ihm gekommen und sah ihm Tag für Tag zu.
Einige Tage später waren nur noch die sauberen, gelblichen Knochen da. In einer Ecke lag ein großer Haufen Erbrochenes, denn der Junge hatte es nicht jeden Tag geschafft, alles in sich zu behalten.

Seither war wieder einiges an Zeit vergangen. Die Sonne war nie untergegangen.
Der Junge hatte jetzt lange Haare und einen Bart, in der Farbe insgesamt dunkel, stellenweise aber auch grau. Er saß am Esstisch vor den mittlerweile dunkelbraunen Knochen, neben ihm schwebte in der Mitte des Raumes der Ballon. Die Sonne flutete das Esszimmer immer in einem sehr gemütlichen, warmen Licht. Der Junge summte angespannt sein Lied.
Er war schlechter Stimmung. ‚Ich hätte meinen Bruder nicht essen sollen‘, dachte er sich verärgert.

Am liebsten wollte er vor Wut laut schreien, auf den Boden stampfen, auf die Möbel eintreten und die Einzelteile durch die Gegend werfen – er würde alles tun, um ihn wieder zurückzubringen. Beim Gedanken daran, dass so etwas nicht geht, wurde ihm fast schlecht und Panik kam in ihm auf, die ihm von innen schwer gegen die Gedanken drückte. Heißkalter Schweiß überall. Innerlich fühlte er sich als würde er zittern, auch wenn sein Körper verkrampft war und kaum eine Regung zeigte. Richtig weinen wollte er! Auch wenn er nicht wusste, wie das ging.
Ihm war es jetzt auch wirklich egal, dass das andere Kind wahrscheinlich kein echter Mensch gewesen war.

Aber er beherrschte sich und beruhigte sich mit einem tiefen Atemzug wieder, hörte auf zu summen.
Er wollte jetzt zurück zur Bushaltestelle gehen.
Vielleicht war ein paar Haltestellen weiter seine Mutter, und vielleicht konnte seine Mutter etwas besseres kochen. Hier gab es ja nicht einmal Teller.
Er stand auf und winkte zum Abschied lächelnd dem Babuschka-Gesicht und dem toten Kind. Dann ging er zur Tür raus und suchte die Treppe nach unten. Er hatte sie wirklich schon lange nicht gesehen.
Der Ballon verblieb zusammen mit den Knochen. Aus der Ferne hörte man die Treppen wackeln; der Junge hatte sie gefunden und ging in zügiger Geschwindigkeit nach unten. Dann das Geräusch der aufgehenden Tür, und kurz darauf fiel sie wieder zurück in den Rahmen.
Ab diesem Punkt, bis auf ein sehr leises Ticken, Stille.

Die Augen des Gesichts waren immer noch kreisrund und weit aufgerissen. Sie bohrten sich mit einer groben Intensität in das Nichts vor ihm. Fleischig und prall wirkten sie fast, als würden sie ein ganz klein wenig pulsieren. Man schaute sie sich gerne an, konnte darin versinken. Der Mund war eng verschlossen und ernst, die Lippen scharlachrot. Vielleicht sah das Gesicht auch ein bisschen älter aus als damals, die weiße Schminke eine Spur bröckeliger und die Kleidung einen Hauch blasser - aber wenn, dann war es wirklich kaum merkbar.
Der Ballon studierte wieder die gespiegelten, wissenden Worte, die sich gerade vor ihm und um ihn herum neu bildeten, seine Pupillen rollten dabei wild umher. Abermals schienen sie ihn zu beschreiben, hierbei mit besonderem Fokus auf seinen Blick. ‚Ich kann dich auch sehen‘, dachte er sich.

______________________
a thing of beauty, I know
will never fade away


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Männlich 
BeitragVerfasst: Fr 30. Jun 2023, 18:43 
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Minibildchen

Registriert: Fr 23. Aug 2013, 17:44
Beiträge: 2734

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Finde die Geschichte ganz gut, dafür dass du nur knapp 6 Stunden an ihr gearbeitet hast.

Anfangs merkt man, dass du versuchst, viel zu visualisieren, damit der Leser sich die Szenerie besser vorstellen kann.
Das nimmt jedoch in der zweiten Hälfte deutlich ab, was schade ist.

Am interessantesten finde ich den Ballon, der anfangs Trost spendet, sich aber mit der Zeit als immer größer werdende Gefahr herausstellt und dessen Motive unklar sind.

Weiß nicht, ob es an mir liegt, aber ich hatte teilweise Schwierigkeiten, mich beim Lesen zu orientieren und die Handlungsweisen des Protagonisten nachzuvollziehen.
Wirkt an manchen Stellen etwas wirr beschrieben, wie z. B.:
"In den Tagen und Wochen darauf spielten alle drei gemeinsam das Spiel. Die Kinder hatten sich getrennt, um den Ballon schneller zu finden."
War hier kurzzeitig verwirrt und fragte mich, wer die 3. Person sein soll, da der Ballon sich ja sonst random versteckt hat und nicht auf "Kommando" spielt.
Oder:
"Das Gesicht ließ er oben zurück, damit es sich wieder verstecken konnte, wenn es wollte."
Auch etwas verwirrend für mich, wenn der Ballon verschiedene Bezeichnungen hat. Ließ er nur das Gesicht zurück, oder den ganzen Ballon?
"Sechs Augen schauten ihn jetzt an. Zwei gehörten dem Ballon in seinem Fleisch und Knochen, zwei ihm und dem Ballon von der anderen Seite."
Hab ich um ehrlich zu sein nicht gecheckt. Wie können die 2 Augen, die sich auf der Hinterseite des Ballons befinden, ihn anstarren?
Edit: Hab den Abschnitt nochmal gelesen. Der Spiegel war wohl schon aus meiner Wahrnehmung verschwunden.

Ansonsten hätte es mir besser gefallen, wenn man mehr über die Emotionen des Protagonisten erfahren hätte. Diese wurden nur sehr spärlich beschrieben.
Ist schwierig, wenn sonst kaum Dialoge vorhanden sind, einen Einblick in seine Gefühlswelt zu bekommen.
"Am liebsten wollte er vor Wut laut schreien, auf den Boden stampfen, auf die Möbel eintreten und die Einzelteile durch die Gegend werfen – er würde alles tun, um ihn wieder zurückzubringen. Beim Gedanken daran, dass so etwas nicht geht, wurde ihm fast schlecht und Panik kam in ihm auf, die ihm von innen schwer gegen die Gedanken drückte. Heißkalter Schweiß überall. Innerlich fühlte er sich als würde er zittern, auch wenn sein Körper verkrampft war und kaum eine Regung zeigte. Richtig weinen wollte er! Auch wenn er nicht wusste, wie das ging."
Hier war das z.B. sehr gut, wobei auch sehr verwunderlich, da er sonst kaum Emotionen gezeigt hat.

Wenn man jetzt nicht wüsste, dass ein kompletter Traum beschrieben wird, den der Autor gehabt hat, würde bei den meisten Lesern vermutlich regelmäßig ein Fragezeichen über dem Kopf erscheinen. Ist aber meistens so, dass der Autor eine ganz genaue Vorstellung von dem hat, was er ausdrücken möchte und deswegen vieles nicht deutlich genug beschreibt, was dann falsch beim Leser ankommt.

Ansonsten kann ich mir jedoch die bedrückende Atmosphäre gut vorstellen und würde gerne sehen, wie das als Kurzfilm rüberkommen würde.
Wie gesagt für 6 Stunden nicht übel.

______________________
I'm transcendence, my pronouns are every/where


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Männlich 
BeitragVerfasst: Di 3. Okt 2023, 12:07 
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Minibildchen

Registriert: Fr 23. Aug 2013, 17:44
Beiträge: 2734

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Dass ich in so ner Art Zeitloch gefangen war, ähnlich wie im Film Langoliers von Stephen King.
Habs dadurch gemerkt, dass keine Leute mehr da waren und Lebensmittel, die draußen lagen, nicht schlecht wurden.

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